# taz.de -- Künstlerin über Istanbul-Konvention: „Der Machismo war schon im… | |
> Die türkische Künstlerin Hale Tenger spricht über den Austritt der Türkei | |
> aus der Istanbul-Konvention und die Freiheit der Kunst am Bosporus. | |
Bild: Hale Tenger, geboren 1960 in Izmir, gehört zu den wichtigsten Gegenwarts… | |
taz am wochenende: Hale Tenger, am 20. März zog Präsident Recep Tayyip | |
Erdoğan die Türkei aus der [1][Istanbul-Konvention] zurück. Heftige | |
Proteste waren die Folge. Die Rechte von Frauen in dem muslimischen Land | |
sind aber nicht der einzige Streitpunkt am Bosporus. Angesichts sinkender | |
Umfragewerte macht Erdogan Jagd auf die Opposition. Wie haben sie reagiert, | |
als Erdoğan entschied, aus der Istanbul-Konvention auszutreten? | |
Hale Tenger: Ich war so wütend und frustriert. Frustration als Folge seiner | |
Politik ist nichts Neues, aber so, wie seine undemokratischen Züge | |
eskalieren, wird man jedes Mal, wenn etwas Neues passiert, sofort in | |
Alarmbereitschaft versetzt. Vielleicht ist das Einzige, was in der Türkei | |
seit 19 Jahren so konsequent ist, Erdoğans Art der inkonsistenten | |
Regierungsführung. Seit Jahren hat er nichts unterlassen, seinen | |
Selbstwiderspruch in den Fragen von Demokratie, der Menschenrechte und der | |
Gerechtigkeit zu demonstrieren. | |
„Ich habe solche Freunde“ hieß eine Ihrer Arbeiten aus dem Jahr 1992. Mit | |
einer türkischen Nationalflagge, zusammengesetzt aus Hunderten | |
Bronzefiguren mit erigiertem Penis, spießten sie den Machismo der | |
kemalistischen Republik auf. Regrediert die Türkei nun in ein muslimisches | |
Patriarchat? | |
Die Türkei taumelte fast immer unter dem Gewicht der Mitte-rechts-Politik | |
und der von Männern dominierten Kultur. Das Installationsstück, das Sie | |
erwähnen, bezog sich auf die brutalen Ungerechtigkeiten, vor allem gegen | |
die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei in diesen Jahren. Der seit | |
Anfang der 80er Jahre andauernde türkisch-kurdische Konflikt war in den | |
90er Jahren erneut dramatisch eskaliert, und dieser Teufelskreis | |
wiederholte sich immer wieder. | |
Zwischen 2013 und 2015 gab es einen Zeitraum, in dem der sogenannte | |
Lösungs- oder Friedensprozess stattfand, der jedoch abrupt unterbrochen | |
wurde. Seitdem die kurdische Vertretung im Parlament gewachsen ist und von | |
der Öffentlichkeit breiter unterstützt wird, wurden die alten | |
antikurdischen Mechanismen wieder aktiviert. Der Machismo war schon immer | |
hier, aber jetzt untergräbt die „Gesetzlosigkeit“ das, was wir haben noch | |
weiter. Selbst das ohnehin nicht so faire demokratische System, das wir | |
hatten, ist fast verloren. Ohne das wird es ein Chaos geben. | |
Die Istanbul-Konvention ist nicht das einzige Problem. Angesichts des | |
Feldzugs gegen die Kurden im Südosten, gegen die Studenten der | |
[2][Boğaziçi-Universität], gegen die oppositionelle HDP-Partei: Ist die | |
Türkei noch zu retten? | |
Das ist natürlich eine entscheidende Frage. Ich weiß nicht, wie wir es | |
können und wie lange es dauern wird, um die bereits aufgetretenen Schäden | |
zu reparieren, insbesondere im Justizsystem. So wie sich die | |
wirtschaftliche Lage verschlechtert, könnte das eine Änderung des | |
Regierungs- und Präsidialsystems bewirken und eine Motivation für die | |
Rückkehr zum parlamentarischen System sein. Dafür brauchen wir eine Wahl, | |
aber nicht eine betrügerische oder manipulierte Wahl, für die es bereits | |
Anzeichen gibt. | |
Ihr Land hat drei Militärputsche erlebt. Seit der Gründung der Republik | |
1923 gehört staatliche Repression zur Grunderfahrung des politischen | |
Lebens. Was ist das Neue an der Situation derzeit? | |
Diesmal handelt es sich um eine fortlaufende Version ohne Unterbrechung, | |
nicht wie die vorherigen, die von Zeit zu Zeit vom Militär durchgesetzt | |
werden. Danach gab es immer wieder normale Perioden. Die staatliche | |
Unterdrückung geht mit aller Macht vom Präsidialsystem aus. | |
Ein Präsident, der alles per Dekret regeln darf, ein amputiertes Parlament, | |
immer mehr Oppositionelle hinter Gittern: Ist die Türkei inzwischen eine | |
Diktatur? | |
Nun, es ist nicht nötig, dies zu kommentieren. Bei dem jüngsten Vorfall, | |
dem Austritt aus der Istanbul-Konvention, wurde ja ausdrücklich gesagt: | |
„Wir tun es, wie wir wollen, wir können eine Vereinbarung unterzeichnen, | |
wie wir wollen, und sie jederzeit zurückziehen, wenn wir möchten mögen.“ | |
Manche sprechen sogar schon von Faschismus … | |
Wenn Gesetzlosigkeit so zur Normalität wird, gibt es nicht mehr viel andere | |
Terminologie, oder? | |
Haben Sie noch Hoffnung für den inhaftierten Kunstmäzen Osman Kavala und | |
den ehemaligen HDP-Chef Selahattin Demirtaş? | |
Natürlich habe ich das! Nelson Mandela wurde vom Präsidenten Frederik | |
Willem de Klerk freigelassen. Natürlich hoffe ich, dass es nicht so lange | |
dauert, der Himmel möge es verhüten. | |
Intellektuelle, Akademiker, Liberale wie Can Dündar sind zu Tausenden | |
ausgewandert. Gibt es noch eine ernstzunehmende Opposition? | |
Es gibt sie, aber meistens in den sozialen Medien und ein bisschen auf der | |
Straße, aber nicht mehr so viel wie früher. Auf der anderen Seite halte ich | |
die Proteste der Boğaziçi-Universität, die jetzt schon seit Monaten | |
stattfinden, unter den jetzigen Umständen für einen äußerst bedeutsamen | |
Widerstand. | |
In den 70er Jahren schuf die Malerlegende Mehmet Güleryüz mit der Skulptur | |
eines riesigen Affen aus Holz in einem Kasten ein Symbol gegen das | |
Einengende der türkischen Gesellschaft. Spätestens ab den 90er Jahren | |
wurden die Kunst und die Intellektuellen dann zum Nukleus des kritischen | |
Diskurses über die Identität der Türkei. Ist es mit dieser Pionierrolle | |
vorbei? | |
Nein, es ist noch nicht vorbei, ich meine, die Kraft der Kunst ist da, aber | |
es ist vertrackt. Als das Arter-Kunstmuseum 2019 in sein neues Gebäude | |
umzog, zeigten sie auf der Eröffnungsausstellung meine Arbeit „We didn’t go | |
outside; we were always on the outside/We didn’t go inside; we were always | |
on the inside“, eine Installation, die aus einer hölzernen Wachkabine | |
besteht, umgeben von Stacheldraht. 24 Jahre nachdem sie erstmals auf der 4. | |
Istanbul Biennale 1995 gezeigt wurde. | |
Sie wurde zu einem zentralen Anziehungspunkt für die Zuschauer und in den | |
sozialen Medien. Dagegen befindet sich die Installation „I know people like | |
this II“, die ich 1992 erstmals gezeigt habe und wegen der ich vor Gericht | |
gestellt wurde, jetzt im Depot, und wer weiß, wann oder ob sie jemals in | |
der Türkei wieder ausgestellt werden kann. Für den Fall müssten jede | |
Institution und ich auf die ernsten Konsequenzen vorbereitet sein. | |
Ironischerweise kann die spätere Arbeit gezeigt werden, aber nicht die | |
Arbeit, die die Reaktion hervorgerufen hat, und dies ist so typisch für die | |
Türkei. | |
Kann die Kunst in Ihrem Land wirklich noch frei arbeiten? | |
Ja, überraschenderweise gab es kürzlich in Istanbul eine großartige Show in | |
dem unabhängigen Artspace Protocinema mit dem Titel „A Finger for an Eye“, | |
kuratiert von Alper Turan. Sie hat sich sehr kritisch mit der anhaltenden | |
Gewalt auseinandersetzt, vor allem der visuellen Codes und Symbole. In der | |
Show war sogar ein Foto von den Protesten der Boğaziçi-Universität zu | |
sehen. | |
Die Türkei reagiert immer allergisch auf Einmischungen von außen. Könnte | |
Europa etwas tun gegen den Marsch des Landes in die Diktatur? Und wenn ja, | |
was? | |
Wenn sich die EU nicht so sehr vor dem Zustrom von Einwanderern nach Europa | |
gefürchtet hätte, stünde sie jetzt nicht unter dem Druck, davor | |
zurückzuschrecken, kritisch auf das zu reagieren, was in letzter Zeit in | |
der Türkei geschehen ist. Ehrlich gesagt ist das Image der EU von hier aus | |
so, dass sie sich nicht mehr um Demokratie oder Menschenrechtsfragen in der | |
Türkei kümmert. Ich denke jedoch, dass diese Diplomatie auch für die EU | |
schwerwiegende negative Folgen haben kann. Aber die EU-Politiker und | |
-Diplomaten wissen viel besser als ich, wie sie der Türkei helfen können. | |
25 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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