# taz.de -- Kobane-Prozess in der Türkei: Tumulte zum Auftakt | |
> In Ankara hat ein Mammutverfahren zu tödlichen Protesten gegen den | |
> IS-Angriff auf Kobane 2014 begonnen. Die HDP spricht von einem | |
> „Racheprozess“. | |
Bild: War am Montag per Video zugeschaltet: Demirtaş, hier auf einem Foto im J… | |
BERLIN taz | Unter starken Einschränkungen für die Öffentlichkeit hat am | |
Montag im Gerichtssaal des Gefängnisses Sincar bei Ankara das | |
Hauptverfahren gegen den früheren Vorsitzenden der links-kurdischen HDP, | |
Selahattin Demirtaş, und weitere 107 FunktionärInnen der HDP begonnen. | |
Ein großes Polizeiaufgebot vor dem Gerichtssaal behinderte am Morgen vor | |
Prozessbeginn eine Stellungnahme des aktuellen Co-Vorsitzenden der HDP, | |
Mithat Sancar. Journalisten wurden gehindert, Sancar zu filmen, der sagte: | |
„Dieser Prozess ist ein Racheprozess der Regierung, die nicht verdaut hat, | |
dass der IS 2014 in Kobane von den Kurden besiegt werden konnte“. | |
Der Prozess soll die [1][Ereignisse um die türkisch-syrische Grenzstadt | |
Kobane] aufarbeiten, die im Winter 2014/15 vom IS belagert wurde. Weil die | |
türkische Armee damals die Kurden aus der Türkei daran hinderte, ihren | |
Verwandten jenseits der Grenze zu Hilfe zu kommen, rief Demirtaş zu | |
Protestaktionen auf. | |
Im Rahmen dieser Proteste kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen | |
zwischen den Demonstrierenden, der Polizei, der Gendarmerie und IS-nahen | |
Organisationen, die nach Angaben der HDP zu 43 Toten führten. Die | |
Staatsanwaltschaft spricht von 37 Toten. | |
Diese Toten, die nach Angaben der HDP überwiegend Anhänger ihrer Partei | |
waren, werden jetzt der damaligen HDP-Führung und der Partei als Ganzes zur | |
Last gelegt. Insgesamt sind 108 Menschen wegen „Zerstörung der Einheit des | |
Staates“ angeklagt, außerdem wegen 37-fachen Totschlags. | |
Trotz der zumindest indirekten Parteinahme für den IS durch die türkische | |
Regierung im Kampf um Kobane wurde der IS letztlich von den kurdischen | |
Verteidigungskräften mit Unterstützung der US-Luftwaffe zurückgeschlagen. | |
Es war die erste große Niederlage des IS in Syrien und der Beginn der von | |
der Türkei scharf kritisierten Zusammenarbeit der USA mit der kurdischen | |
YPG-Miliz im Kampf gegen den IS. | |
## Seit 2016 in U-Haft | |
Für die beiden prominentesten Angeklagten, Demirtaş und Figen Yüksekdağ, | |
die damaligen ParteiführerInnen, fordert die Staatsanwaltschaft mehrmals | |
lebenslängliche Haft, insgesamt für alle Angeklagten mehrere tausend Jahre. | |
Demirtaş und Yüksekdağ wurden im Herbst 2016 verhaftet und sitzen seitdem | |
in U-Haft. Mit ihnen sitzen 26 weitere Angeklagte in U-Haft, einige wurden | |
erst im letzten Oktober verhaftet. Sechs der Angeklagten sind offiziell auf | |
freiem Fuß, 72 sind flüchtig.* | |
Gegen Demirtaş laufen mehrere weitere Gerichtsverfahren, in einem wurde er | |
bereits zu [2][vier Jahren Haft wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“] | |
verurteilt. Dieses Urteil erfolgte, nachdem der Europäische Gerichtshof für | |
Menschenrechte (EGMR) 2018 zum ersten Mal seine Freilassung aus der | |
Untersuchungshaft gefordert hatte. | |
Im Dezember 2020 [3][urteilte dann die Große Kammer des EGMR erneut] und | |
forderte wieder die Freilassung von Demirtaş. In diesem Verfahren entschied | |
der EGMR auch, dass der Aufruf zu Demonstrationen 2014, der jetzt vor | |
Gericht verhandelt wird, von der Meinungsfreiheit gedeckt war. Die | |
türkische Regierung lehnte eine Freilassung von Demirtaş dennoch ab. | |
## Prozess begann mit Tumulten | |
Wie auch in den meisten anderen Verfahren gegen Demirtaş wurde er am Montag | |
aus seinem Gefängnis in Edirne per Video zugeschaltet. Der Prozess begann | |
mit Tumulten, die sich im Laufe des Tages fortsetzten. | |
Zunächst verweigerte das Gericht einem Teil der Anwälte die Teilnahme, | |
woraufhin sich die gesamte VerteidigerInnen-Riege zurückzog. Demirtaş | |
kündigte daraufhin an, jede Kooperation mit dem Gericht zu verweigern: „Wir | |
werden nicht einmal unsere Personalien angeben“, solange die AnwältInnen | |
nicht da sind. | |
Nachdem diese Frage geklärt werden konnte und die VerteidigerInnen wieder | |
im Saal waren, ließ der Vorsitzende dann Demirtaş nicht reden, was zu | |
erneuten Tumulten führte. Der erste Prozesstag war der Verlesung der 3.000 | |
Seiten langen Anklage gewidmet. | |
Den Prozess wollten etliche Vertreter in- und ausländischer | |
Menschenrechtsorganisationen beobachten. Vielen wurde ebenfalls der Zutritt | |
zum Gerichtsaal verweigert. Die Menschenrechtsbeauftragte der | |
Bundesregierung, Bärbel Kofler, bezweifelte in einer Stellungnahme, dass | |
gegen die Angeklagten ein fairer Prozess stattfinden werde und forderte, | |
dass die türkische Regierung endlich die Entscheidungen des EGMR umsetzt. | |
* In einer früheren Version dieses Artikels war die Zahl der flüchtigen | |
Angeklagten mit 64 angegeben. Wir haben den Fehler korrigiert. | |
26 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
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