# taz.de -- Zeppelin-Museum in Friedrichshafen: Eine Welt jenseits der Staaten | |
> Das Friedrichshafener Zeppelin-Museum versteht sich als Museum neuen | |
> Typs. Seine jüngste Schau dreht sich um die Grenzen von Staatlichkeit. | |
Bild: Ausstellungsansicht mit der Video-Installation von Forensic Oceanography/… | |
Eine schmale Glasröhre, gefüllt mit nichts weiter als klarem Wasser, auf | |
schwarzem Grund an einer Betonwand befestigt: Nevin Aladağs Werk „Border | |
Sampling“ wirkt auf den ersten Blick unscheinbar und minimalistisch. Das | |
kleine Objekt hat es freilich in sich. Die Kanüle hat die Künstlerin vor | |
ein paar Jahren mit Wasser gefüllt, das sie bei einer Recherche mit | |
Seeforschern an der tiefsten Stelle des Bodensees gewonnen hat. | |
Das 63 Kilometer lange Binnengewässer im Alpenvorland ist ein | |
völkerrechtliches Unikum. Obwohl drei Länder an es grenzen, ist es die | |
einzige Gegend in Europa, in der seit 1648 nie klare Grenzen zwischen den | |
Nachbarstaaten festgelegt wurden. Zu wem, so ließe sich Aladağs Arbeit | |
interpretieren, gehört also das Wasser in einem Grenzgewässer? Können klar | |
definierte Grenzlinien im Fluss sein? Oder führt das fließende Element | |
Wasser die Grenze ad absurdum? | |
Dass das [1][Friedrichshafener Zeppelin-Museum] mit seiner Schau „Beyond | |
States“ eine Ausstellung zum Thema Staatlichkeit organisiert, könnte auf | |
den ersten Blick verwundern. Liegt aber angesichts des transitorischen | |
Charakters des Bodensees auf der Hand. | |
Auch die Hardware des Museums steht dafür. Denn frühestens mit den Brüdern | |
Montgolfier, spätestens aber mit der Erfindung des Zeppelins setzt ein | |
Prozess der Deterritorialisierung von Staatlichkeit ein, der sich bis heute | |
fortsetzt. | |
## Anknüpfen an zeitgenössische Diskurse | |
Die Ausstellung mit zehn künstlerischen Positionen und zahlreichen | |
historischen Exponaten ist die jüngste in einer Reihe, mit der das immer | |
noch etwas unter dem Radar der Aufmerksamkeit segelnde Museum an | |
zeitgenössische Diskurse anzuknüpfen versucht. | |
[2][Als die Kunsthistorikerin Claudia Emmert] 2014 die Direktorin des | |
Hauses mit der weltweit größten Sammlung zur Luftschifffahrt übernahm, | |
wollte sie nicht nur brav das Erbe von Friedrich August, Graf von Zeppelin | |
verwalten, dem geltungs- und innovationssüchtigen Sohn der Stadt. | |
Seit 1996 lagern die Bestände der alten Zeppelinsammlung des 1912 | |
gegründeten, im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstörten Bodensee-Museums | |
in dem schließlich von Star-Architekt HG Merz zum modernen Zeppelin-Museum | |
umgestalteten alten Hafenbahnhof der 60.000 Seelen zählenden Seestadt. | |
Zusammen mit der über 4.000 Werke großen Kunstsammlung machen sie das Haus | |
zu einem spannenden Zweispartenhaus an der Schnittstelle von Kunst und | |
Technik. | |
## Utopien dritter Dimension | |
Mit prononcierten Themenschauen versucht Emmert, die sich zuvor als | |
Gründungsdirektorin des Kunstpalais Erlangen einen Namen machte, diesen | |
gewaltigen kulturhistorischen Fundus beherzt nach vorne zu denken. | |
Schließlich steht dieses Gefährt nicht nur für Kunst- und | |
Technikgeschichte, sondern taugt auch als Metapher: Für eine gegen alle | |
Widerstände realisierte Vision. „Fetisch Zukunft“ hat die couragierte | |
Kuratorin denn auch die kommende Ausstellung genannt, die aus Anlass des | |
25. Museumsjubiläums die Frage nach den „Utopien der dritten Dimension“ | |
auffächern soll. | |
Auch in der jetzigen Schau gelingt ihr der Sprung vom Konkreten zum | |
Abstrakten. Als 1908 und 1913 das Zeppelin-Luftschiff LZ 4 während seiner | |
Erstflüge über Straßburg kreiste, musste Frankreich das Gefährt als eine | |
Infragestellung seiner Grenzen empfinden. Ein schmaler Brieföffner mit dem | |
Motiv des Flugs und einem Porträt des Grafen avancierte in Deutschland | |
schnell zu einem nationalen Souvenir. Fortan wurde der Zeppelin zu einer | |
Kriegs- und Propaganda-Ikone. | |
Eine deutsche Postkarte zeigt triumphal den verheerenden Terror, den | |
Zeppelinbomben bei den deutschen Luftangriffen auf Antwerpen 1914 | |
anrichteten. Auf der Online-Plattform debatorial können Besucher:innen | |
über Fragen wie den entgrenzten Luftkrieg oder Staatenlosigkeit | |
diskutieren. | |
## Mehr Streit, mehr Demokratie | |
„Wir brauchen mehr Streit. Demokratie lebt davon“, begründet Direktorin | |
Emmert dieses in Deutschland einzigartige Tool für ein interaktives Museum | |
der Zukunft. „Aneignungs- und Diskursorte“ nennt sie die Häuser gern. | |
Zur Gegenwart unklarer Grenzen schließt die Ausstellung dann mit der Arbeit | |
„Mare Claustrum“ auf. Das Video der Gruppen Forensic Oceanography und | |
Forensic Architecture rekonstruiert, wie Seenothelfer von Sea-Watch und | |
die libysche Küstenwache sich im November 2017 einen dramatischen Kampf um | |
die Rettung von 130 Migrant:innen lieferten, die nach Europa fliehen | |
wollten. | |
Wege in eine Zukunft jenseits von Staatlichkeit kann natürlich auch diese | |
Ausstellung nicht liefern. Die Idee autonomer Mikrostaaten auf schwimmenden | |
Plattformen im Ozean, wie sie Jacob Hurwitz-Goodman und Daniel Keller in | |
ihrem Video über die 2008 gegründete Bewegung „Seasteading Institute“ | |
zeigen, ist für die breite Masse natürlich unerschwinglich. | |
## Digitale Multinationalität | |
Auch „New World Summit“, der bühnengleiche Rundbau von Jonas Staals 2012 | |
gegründetem Parlament für staatenlose Organisationen mit Sitz in Brüssel, | |
ist höchstens eine Zwischenetappe auf dem Weg zu einer echten Welt „beyond | |
states“, wie sie die Schau anruft. | |
Bis es zu der wahrhaft grenzenlosen Assoziation aller Erdenkinder kommen | |
wird, müssen wir uns also mit der digitalen Multinationalität begnügen, die | |
James Bridles Installation „Citizen Ex“ kenntlich macht. Sein downloadbares | |
Netzwerk zeichnet die in den unterschiedlichsten Ländern und juristischen | |
Geltungsbereichen angesiedelten Stationen nach, die User ansteuern und | |
passieren, wenn sie sich im Internet bewegen. | |
Eine einzige Suchanfrage kann eine „Algorithmic Citizenship“ kreieren, die | |
zu 56,42 Prozent in den USA, 25,53 Prozent in Großbritannien, 7,51 Prozent | |
in China, 1,62 Prozent in den Niederlanden, 1,22 Prozent in Deutschland, | |
1,01 Prozent in Benin, 0,61 Prozent in Israel, 0,2 Prozent in Kanada und | |
3,64 Prozent in unbekannten Gefilden ressortiert. Zumindest so kommen die | |
realen Grenzen schon mal ins Schwimmen. | |
10 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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