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# taz.de -- Streik an Istanbuler Universität: „Was wir fordern, ist legitim�…
> An der Istanbuler Boğaziçi-Universität wird gestreikt. Der Filmemacher
> Can Candan über den Kampf gegen Autoritarismus im Namen der Wissenschaft.
Bild: Die tägliche halbstündige Mahnwache von Lehrenden und Studierenden der …
Seit der Ernennung des AKP-nahen, des Plagiats bezichtigten Rektors Melih
Bulu durch Präsident Erdoğan am 1. Januar 2021 ist die renommierte
Istanbuler Boğaziçi-Universität im Ausnahmezustand. Trotz Festnahmen,
Razzien und Polizeigewalt [1][fordern Akademiker und Studenten seit
Monaten, dass der umstrittene Rektor zurückt]ritt.
taz am wochenende: Herr Candan, Melih Bulu ist nicht der erste umstrittene
Rektor, den Präsident Erdoğan an einer Universität ernennt. Warum ist die
Boğaziçi-Universität so wichtig?
Can Candan: Boğaziçi ist wichtig, weil wir hier alle erstmals „Wir
akzeptieren nicht, wir geben nicht auf“ gesagt haben und uns dieser
Ernennung widersetzen. Anderen Universitäten ist das leider nicht gelungen.
Die Grundsätze unserer Universität schützen deren Autonomie, Freiheiten und
demokratische Werte. Boğaziçi gibt es seit 158 Jahren als Hochschule, seit
50 Jahren ist es eine öffentliche Universität, und die Rektoratswahlen sind
Teil unserer Tradition. Genau wie die Boğaziçi den Prozess nach dem
Militärputsch von 1980 anführte, der 1992 die Rektoratswahlen an den
türkischen Universitäten zurückbrachte, ist sie jetzt wegweisend, um dieser
Top-down-Umstrukturierung der Universitäten zu widerstehen.
Wie ist der heftige, schon lange anhaltende Protest zu erklären?
Staatsstreiche und nachfolgende Ausnahmezustände in der Türkei haben
repressiven Regierungen die Möglichkeit geboten, die Opposition an den
Universitäten einzudämmen, indem sie die Universitäten durch
Gesetzesdekrete von missliebigen Akademikern bereinigten. Insbesondere
[2][nach dem Putschversuch im Juli 2016] haben Hunderte von Dissidenten und
Akademikern ihre Positionen verloren und das Recht, ihren Beruf auszuüben.
Auch an der Boğaziçi-Universität?
Sie war in größerem Maße vor diesen Säuberungen geschützt, weil der damals
ernannte Rektor sich weigerte, der Regierung eine Liste der
Dissidenten-Akademiker vorzulegen, die entlassen werden sollten. Mit der
jetzigen Rektorernennung von oben nach unten hat eine neue Welle geplanter
Angriffe begonnen, um die Kontrolle über die Boğaziçi-Universität zu
erlangen. Fakultät, Studenten und Alumni üben ihr verfassungsrechtlich
geschütztes Protestrecht aus, und die Proteste verliefen bisher friedlich.
Was die Regierung und die Polizei getan haben, um die Opposition zum
Schweigen zu bringen und die Proteste zu unterdrücken, war dagegen
gewalttätig.
Lässt sich der Protest mit dem [3][Aufstand von Gezi 2013] vergleichen?
Die Ähnlichkeit besteht darin, dass beides Top-down-Verdikte sind. Damals
wollte die Regierung aus einem Park eine Shoppingmall machen. Ein
Unterschied ist, dass Gezi ursprünglich ein lokales Problem war, während
der Angriff auf eine international renommierte Hochschule etwas ist, was
ein großer Teil dieser Gesellschaft nicht gutheißt, da es sich um einen
direkten Angriff auf die Qualität der öffentlichen Hochschulbildung
handelt. Boğaziçi ist eine der besten öffentlichen Universitäten. Daher die
überwältigende öffentliche Unterstützung, die wir erhalten haben.
Ist das ein Kulturkampf von Muslimen gegen Säkulare, von Religion gegen
Wissenschaft?
Nein, ist es nicht. Dies ist ein Kampf zwischen einem autoritären Regime
und denen, die sich dem Autoritarismus widersetzen und die demokratischen
Werte verteidigen. Es gibt muslimische Gläubige, die ebenfalls protestieren
und sich dem Autoritarismus widersetzen, da religiöse Werte und Freiheiten
nicht in Widerspruch zu wissenschaftlichen oder akademischen Werten stehen.
Die Bogaziçi-Universität ist ein perfektes Beispiel für einen Ort, an dem
Menschen aller Glaubensrichtungen oder solche ohne Glauben in Harmonie
nebeneinander existierten. Dies ist vielleicht ein Grund, warum Boğaziçi
ins Visier genommen wird, denn es ist ein konkretes Beispiel dafür, dass
eine andere Welt möglich ist, in der solche künstlichen Spaltungen nicht
existieren. Dies bedroht ein Unterdrückungsregime, das sich von Spannungen
zwischen Menschen ernährt, indem es religiöse Werte oder Phobien wie
Homophobie, Transphobie, Fremdenfeindlichkeit für sich ausnutzt. Die
Regierung hat das mit einer eigenen Hashtagkampagne #lgbtdisgraceatbogazici
auch bei unserem Protest versucht. Aber das wird scheitern.
Engagieren, solidarisieren sich Künstler und Intellektuelle in der
Auseinandersetzung? Können sie das überhaupt noch?
Ja, Künstler und Intellektuelle haben ebenfalls ihre Unterstützung und
Solidarität durch Erklärungen, Artikel und Proteste gezeigt. Auch durch
Kunst. Eine Gruppe von Boğaziçi-Studenten hat Ende Januar eine offene
Kunstausstellung auf dem Campus organisiert. Wegen einiger Kunstwerke
stehen sie nun vor Gericht: Eine anonyme Collage enthielt ein Bild der
Großen Moschee in Mekka mit einer mythischen Kreatur, halb Frau, halb
Schlange, bekannt als Shahmaran, in der Mitte, wo sich die Kaaba befindet,
geschmückt mit LGBTIQ+-Flaggen. Die stille Mahnwache der Fakultät, bei der
wir seit zwei Monaten an jedem Wochentag 30 Minuten lang mittags in unseren
akademischen Gewändern mit dem Rücken zum Rektoratsgebäude stehen, hat auch
Künstler inspiriert. Ich kann Nancy Atakans jüngste Arbeit mit dem Titel
„Turned Backs“ als Beispiel anführen.
Sie sind Filmemacher. Gehen Sie mit der Situation künstlerisch um?
Nun, da ich einer der Akademiker bin, deren Recht, einen unserer Kollegen
als Rektor zu wählen, nicht respektiert wurde, und als jemand, der
angegriffen wird, bin ich zunächst einmal Teil der Proteste der Fakultät.
Als Filmemacher dachte ich, mein Beitrag könnte darin bestehen, die
Mahnwache der Fakultät zu dokumentieren. Wir haben gerade unsere 9. Woche
des Widerstands beendet, und ich habe gerade unsere 45. Mahnwache
fotografiert und gefilmt. Ich stelle sicher, dass die Presse und die
Öffentlichkeit, auch Künstler die Bilder aus dieser symbolischen und
kraftvollen performativen Aktion erhalten. Ich denke auch, dass es für die
Zukunft wichtig ist, ein audiovisuelles Gedächtnis dieser Periode der
Boğaziçi-Geschichte zu bewahren. Wer weiß, vielleicht werden all diese
audiovisuellen Aufnahmen eines Tages in Dokumentarfilmen verwendet …
Sie sind inzwischen auch zur Zielscheibe der regierungsnahen Presse
geworden. Wie gehen Sie damit um?
Die Regierung versucht erneut, unsere Opposition zu diskreditieren, indem
sie einzelne Akademiker über ihre Medienkanäle attackiert. Ich bin nicht
der Einzige, der ins Visier genommen wird. Ich bin sehr bewegt von der
enormen Reaktion in den sozialen Medien und von den
Unterstützungsbotschaften. Was wir fordern, ist legitim, gerecht und dient
dem Gemeinwohl.
Was können die europäischen Länder, Menschen aus Europa tun?
Boğaziçi hat mit vielen europäischen Universitäten Vereinbarungen über den
Austausch zwischen Studenten und Fakultäten. Die sind aber nicht nur durch
gemeinsame Projekte verbunden, sondern auch im philosophischen Sinn. Das
Wort „Universität“ kommt vom lateinischen universitas und bedeutet „das
Ganze“. Ich sehe die Wissenschaft als Ganzes und akademische Autonomie und
Freiheiten sowie die demokratischen Werte als universell. Also was mit uns
bei Boğaziçi passiert, ist meiner Meinung nach für alle von Belang. Eine
genaue Beobachtung der Ereignisse an Hochschulen in der Türkei wäre sehr
nützlich. Die Berichterstattung über den Widerstand der Boğaziçi in der
europäischen Presse und die Unterstützung und Solidarität von Institutionen
und Einzelpersonen zeigen uns, dass wir in unserem Kampf nicht allein sind.
12 Mar 2021
## LINKS
[1] /Studierenden-Proteste-in-der-Tuerkei/!5742503
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[3] /Haft-fuer-Demonstrierende/!5689194
## AUTOREN
Ingo Arend
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