# taz.de -- Uni-Proteste in der Türkei: Club der „Terroristen“ | |
> Studierende der Istanbuler Boğaziçi-Universität wehren sich gegen die | |
> Ernennung eines AKP-nahen Rektors. Auch mit sozialen Medien wie | |
> Clubhouse. | |
Bild: Eine Studentin wird bei der Demonstration festgenommen | |
Bereits seit Anfang Januar wird an der renommierten Istanbuler | |
Boğaziçi-Universität [1][gegen die Ernennung eines AKP-nahen Rektors | |
protestiert]. Im Unterschied zu vorherigen Rektor*innen erfolgte die | |
Ernennung Melih Bulus durch Präsident Erdoğan. Nennenswerte Proteste sind | |
in der Türkei in den letzten Jahren seltener geworden. Der jetzt nicht | |
abreißende Widerstand findet nicht nur auf dem Campus, in Istanbul und | |
anderen Städten, sondern auch in den sozialen Medien statt – eine besondere | |
Rolle kommt dabei [2][dem gehypten Netzwerk Clubhouse] zu. | |
In Zeiten von Sprachnachrichten und der schier nicht endenden wollenden | |
Anzahl an Podcasts ist das Prinzip der Audio-App naheliegend: User*innen | |
verabreden sich in Räumen und tauschen sich aus. Sprechen darf, wer sich | |
meldet und von Moderator*innen auf die Bühne geholt wird. Statt der | |
geschlossenen Kneipe noch kurz ins Clubhouse? Zwischen Lockdown und der | |
tausendsten Videokonferenz ist die App eigentlich ein sozialer | |
Zeitvertreib. | |
Die rasant wachsende Anzahl an Nutzer*innen aus der Türkei tauscht sich | |
dabei über belanglose bis hin zu politischen Themen aus. Nicht neu ist, | |
dass soziale Medien in der Türkei essentiell für Protestbewegungen sind, | |
aber überwacht und reguliert werden. | |
Neu ist jedoch, dass es infolge von Äußerungen auf Clubhouse erstmals | |
Festnahmen gab: In einem Raum mit bis zu 5.000 Teilnehmer*innen wurden | |
die Proteste diskutiert und dabei die Freilassung festgenommener | |
Aktivist*innen gefordert. Mindestens vier User wurden daraufhin | |
festgenommen und sehen sich nun mit Vorwürfen von „Volksverhetzung“ | |
konfrontiert. | |
## Kurz eine zensurfreie Alternative | |
Bereits [3][bei den Gezi-Protesten 2013] spielten die sozialen Netzwerke | |
eine wesentliche Rolle für eine Gegenöffentlichkeit und um Menschen zu | |
mobilisieren. Seit ein 2020 erlassenes Gesetz soziale Medien zunehmend | |
einschränkt, schien Clubhouse kurz als neue zensurfreie Alternative zu | |
dienen. Denn aufgezeichnet werden können die Unterhaltungen nur über | |
Umwege. Auch Bots können noch nichts ausrichten oder die Gespräche stören. | |
Daher dient die App weiterhin zum Live-Austausch während der Proteste und | |
als Ort für regelmäßige Diskussionsforen. | |
Nach rasant steigenden Userzahlen [4][sperrte China kürzlich Clubhouse]. In | |
Deutschland gibt es Bedenken wegen des Datenschutzes. Denn nur über | |
Einladungen beitreten zu können, versprüht vermeintlich etwas Exklusives, | |
erfordert aber die Freigabe aller eigenen Kontakte. Ausgeschlossen sind | |
auch gehörlose Menschen und aktuell noch die, die kein iPhone besitzen. Als | |
Reaktion auf eine Aufforderung der Polizei wurde #AsağıBakmayacağiz, zu | |
Deutsch: „Wir schauen nicht nach unten!“, zum viralen Hashtag und dient | |
seitdem als Protestruf. | |
## „LGBT, so was gibt es nicht“ | |
Auch Kanäle auf Instagram streamen live Aktionen und Zusammenstöße auf dem | |
Campus. Die Studentin Beyza Buldağ wurde festgenommen, weil sie eine | |
Whatsapp-Gruppe zum Austausch über die Proteste eröffnet haben soll. Auf | |
einem auf Twitter viralen Bild zeigt die Demonstrantin Melis Akyürek ihre | |
elektronische Fußfessel, auf der sie eine LGBT-Fahne platzierte: [5][„Heute | |
begann mein Hausarrest, weil ich an den Boğaziçi-Protesten teilgenommen | |
habe. […] Es ist ein hässlicher Apparat, […] machen wir ihn ein bisschen | |
bunter].“ | |
„LGBT, so was gibt es nicht“, hieß es von Erdoğan in Anspielung auf die | |
etlichen Regenbogen- und Transflaggen während der Proteste. Parallelen zu | |
den Gezi-Prosten zog Erdoğan selbst und erwähnte die Demonstrierenden in | |
einem Atemzug mit Terrorist*innen. Dabei geht es um weitaus mehr als ein | |
paar Studis, die ihren Rektor kritisieren. | |
## Gegenmodell zum Konservatismus der AKP | |
Als eine der anerkanntesten Bildungsstätten für die Elite im Land mit einem | |
weltweiten Alumni-Netzwerk steht die Boğaziçi-Universität für [6][das | |
Gegenmodell zum Konservatismus der AKP]. Die Ernennung eines der | |
Universität fremden Rektors gilt daher als empfindlicher Eingriff in die | |
ohnehin gefährdete akademische Freiheit. | |
Die Zivilgesellschaft der Türkei begehrt nun einmal mehr auf. Clubhouse | |
dient dabei für viele junge Oppositionelle als neues Medium für den | |
Protest. Aber auch einige konservative und rechte Politiker*innen | |
kritisieren öffentlich das Vorgehen gegen die Demonstrierenden, darunter | |
die Vorsitzende der nationalistischen İyi Parti, Meral Akşener. An die | |
Protestierenden gerichtet hieß es von ihr: „Meine jungen Freunde, | |
willkommen im Club der Terroristen!“ | |
11 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/bogazici-universitaet-in-istan… | |
[2] /Debatten-App-Clubhouse/!5743993 | |
[3] /Schwerpunkt-Protest-in-der-Tuerkei/!t5010328 | |
[4] /Archiv-Suche/!5749820&s=clubhouse&SuchRahmen=Print/ | |
[5] https://twitter.com/melissakyrk/status/1358038525594267656 | |
[6] https://www.spiegel.de/start/tuerkei-bogazici-universitaet-in-istanbul-angs… | |
## AUTOREN | |
Tarık Kemper | |
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