# taz.de -- Alkoholverbot in der Türkei: Corona oder Scharia? | |
> In der Türkei ist es ab Donnerstag komplett verboten, Alkohol zu | |
> verkaufen. Als Grund nennt die Regierung die Coronapandemie. | |
Bild: Raki zu exquisiten Vorspeisen und frisch gefangenem Fisch gehört zu jede… | |
Istanbul taz | Die säkulare Türkei ist geschockt: Die Regierung verbietet | |
den Verkauf von Alkohol – erst einmal nur für knapp drei Wochen, solange | |
der neue Lockdown andauert, der am Donnerstagabend beginnen und bis zum 17. | |
Mai gehen soll. Doch viele befürchten, dass das nur ein Probelauf für die | |
islamische Zukunft des Landes ist. | |
Die Aufregung über die Anordnung der Regierung von Präsident Recep Tayyip | |
Erdoğan kam, als nach und nach klar wurde, dass es tatsächlich um ein | |
totales Verbot des Alkoholverkaufs geht. In der Liste der Maßnahmen war | |
zunächst nicht von einem Alkoholverbot die Rede gewesen, als das Kabinett | |
am Montag den neuen Lockdown verkündete, der grundsätzlich auf Verständnis | |
stieß, da die Infektionszahlen seit Wochen hoch sind. | |
Istanbul verzeichnet eine 7-Tage-Inzidenz von über 800, die Krankenhäuser | |
arbeiten am Limit. Viele finden es deshalb richtig, dass auch über die | |
Bayram-Ferien am Ende des Ramadan vom 12. bis 17. Mai alles zubleibt. | |
Doch dann sickerte am Mittwoch die Nachricht durch, dass die Regierung | |
zusätzlich zu Schließungen und Ausgangssperren auch den Verkauf von Alkohol | |
verbieten will. Zunächst schien es, als seien davon nur die „Tekel“-Shops | |
betroffen, kleine Läden hauptsächlich auf dem Land, die Alkohol verkaufen | |
dürfen. | |
Doch schnell wurde klar, dass das Verbot auch für Supermärkte gilt, in | |
denen Alkohol verkauft wird. Ihre Alkoholika müssen sie wegsperren – eine | |
aus Sicht der Pandemiebekämpfung überflüssige, „wenn nicht gar schädliche | |
Anordnung“, wie Serap Şimşek-Yavuz am Dienstag sagte, Mitglied des | |
Wissenschaftsrats, der die Regierung berät. | |
„Erdoğan verbietet unsere Lebensweise“, titelte die Oppositionszeitung | |
Cumhuriyet. Vor allem der Genuss von Raki ist in der Türkei Ausweis | |
säkularer Lebensfreude. Eine große Raki-Tafel mit exquisiten Vorspeisen und | |
frisch gefangenem Fisch gehört zu jeder Feier unter Freunden dazu. | |
Dass die Raki-Tafeln zu Pandemiezeiten kaum noch stattfinden konnten, ist | |
das eine. Dass die islamische Regierung nun aber die Gelegenheit nutzt, den | |
BürgerInnen auch noch ein Bier zu Hause zu verbieten, weckt den Verdacht, | |
dass es Erdoğan um etwas anderes als [1][Corona] geht. | |
## Säkulare fürchten Alkohol-Prohibition | |
Damit werde die Scharia vorbereitet, heißt es auf Twitter, Erdoğan wolle | |
sein totalitäres islamistisches Weltbild durchdrücken. Vor rund zwei | |
Monaten hatte der Präsident [2][erneut angekündigt, dass er eine neue | |
Verfassung für die Türkei anstrebt]. Die derzeitige stamme noch aus der | |
Zeit der Militärdiktatur nach dem Putsch 1980 und müsse endlich durch eine | |
zivile Verfassung abgelöst werden. | |
In der Opposition kamen sofort zwei Vermutungen auf: Erdoğan will sich die | |
Möglichkeit schaffen, endlos als Präsident weiterzuregieren, und die Türkei | |
soll in einen islamischen Staat verwandelt werden. | |
Die säkulare Türkei versteht das Alkoholverbot deshalb als Probelauf für | |
eine kommende Alkohol-Prohibition. Um in den nächsten drei Wochen nicht auf | |
dem Trockenen zu sitzen, wurden vor allem die Bier, Wein und Raki-Regale in | |
den Supermärkten ausgeräumt. | |
Aber auch die Schwarzbrennerei hat in der Türkei Tradition, schon deshalb, | |
weil Alkohol seit Langem über die Steuer künstlich verteuert wird. Bis vor | |
zwei Jahren gab es in den Supermärkten fertige Sets, um Bier selber zu | |
brauen. Das wurde aber verboten. Jetzt hilft nur das Internet mit einer | |
Brauanleitung. | |
Die Hoffnung der Bier- und Raki-Freunde in der Türkei richtet sich für die | |
Zukunft jedoch vor allem auf die Touristen. Ohne Bier werden Russen, | |
Ukrainer, Briten und Deutsche wohl einen weiten Bogen um die | |
Feriendestination Türkei machen. Und die Türkei braucht das Geld aus dem | |
Tourismus dringend. | |
28 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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