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# taz.de -- 13. Istanbul Biennale: Den Raum des Denkens öffnen
> Die 13. Istanbul Biennale zieht sich im Zweifrontenkrieg zwischen
> Staatsmacht und Bewegung auf klassische Konzepte zurück.
Bild: In „Wonderland“ von Halil Altindere lassen drei Rapper einen Polizist…
Der Aufruf verbreitete sich in wenigen Minuten. In Hatay war der 22-jährige
Student Ahmet Atakan durch eine Gaskartusche der Polizei gestorben. Und
Istanbuls Protestbewegung rief zum Protest. Doch wer sich vergangenen
Montag durch Beyoglus anschwellende Menschenmassen durchgekämpft hatte,
stand am Taksimplatz vor einem undurchdringlichen Wall der dunkelblauesten
Staatssicherheit: Junge Polizisten, in maßgeschneiderten Plastikpanzern,
verschanzten sich mit Helmen und Schussgeräten hinter Plastikschilden.
Jeden Abend wiederholte sich der Aufmarsch. Jeden Abend das gleiche Gefühl
zwischen Euphorie, Panik und Tränengas. Nichts konnte die Schizophrenie des
Istanbuler Kunstherbstes 2013 besser zum Ausdruck bringen als dieses
Ritual. Die Polizei kontrollierte den öffentlichen Raum. Während die
Instanz, die ausgezogen war, dieses Forum zurückzuerobern, sich in den
geschlossenen Raum zurückgezogen hatte.
Kapituliert die Kunst vor diesen Verhältnissen, wenn sie in einer
stillgelegten Istanbuler Grundschule Menschen in einer Utopie-Werkstatt
werkeln lässt? Oder im abgedunkelten Saal ein Video der Künstlerin Cynthia
Marcelle zeigt, in dem Protestanten den Straßenverkehr mit einer
Fackelperformance zum Erliegen bringen? Müsste sie nicht auf der Straße
Flagge zeigen?
Fulya Erdemci, die Kuratorin der 13. Istanbul Biennale, war nicht zu
beneiden. Die Gezi-Bewegung hatte ihr über Nacht das Thema vom
„öffentlichen Raum als politischem Forum“ weggenommen. Und hatte mit ihrer
atemberaubenden Ästhetik die Kunst in den Schatten gestellt.
## Biennale als Indoor-Kammerspiel
Monatelang musste Erdemci einen Zweifrontenkrieg führen. Gegen die
Aktivisten, die der Biennale vorwarfen, am Tropf der Sponsoren zu hängen.
Und selbst Motor des Stadtumbaus zu sein. Und sie kämpfte gegen die
Behörden: Weil die ihr nicht erlaubten, an den brisanten Stadtzonen wie dem
Gezipark auszustellen, schrumpfte Erdemci ihre Biennale schließlich zum
Indoor-Kammerspiel.
In dem paradigmatischen Wettbewerb zwischen Kunst und Leben, der seit dem
Sommer in Istanbul tobt, hat die Kunst damit auf den ersten Blick verloren.
Sieht man einmal von Halil Altinderes kraftvollem Video „Wonderland“ ab, in
dem drei Roma-Rapper in dem abgerissenen Stadtviertel Sulukule einen
Polizisten in Flammen aufgehen lassen.
Kein einziges Bild der Biennale brennt sich so ins Bewusstsein wie die
Ikonen vom Gezipark: Der „Standing Man“, der tanzende Derwisch oder das
Iftar-Dinner auf der Istiklal-Straße.
Der riesige Kran, den Ayse Erkmen vor das zentrale Ausstellungsgelände
Antrepo 3 im Istanbuler Hafen gestellt hat, zeigt nur, wie hilflos die
Kunst auf den Ausbruch von Kreativität außerhalb des White Cube zu
antworten versucht.
Die deutsch-türkische Künstlerin, sonst eine Meisterin der raffinierten
Maßverhältnisse, benutzt diesmal den ganz dicken Zeigefinger, um den
geplanten Abriss der alten Lagerhalle zugunsten eines Hotels anzuprangern.
Unaufhörlich schwingt ein riesiger grüner Ball von der Kranspitze gegen das
ockerrote Gemäuer.
Das in Istanbul in den vergangenen Tagen häufig gehörte Argument, die Kunst
könne jetzt nicht einfach so weitermachen, liegt auf der Hand. Insofern
hätte man sich vielleicht gewünscht, dass Erdemci auch vom Display her ein
Signal gesetzt hätte. Anstatt die ausgefallenen öffentlichen Räume durch
fünf klassische Ausstellungsräume und eine klassische Gruppenschau zu
ersetzen. Doch dass die Schau nicht zum stadtweiten Fanal gegen die
Repression in der Türkei geworden ist, kann nur den verdrießen, für den die
Kunst eine andere Form des politischen Widerstands ist.
Erdemci nimmt in Kauf, dass ihre Biennale formal und inhaltlich
einigermaßen blass aussieht. So wie sie unbeirrt auf die eigentliche Stärke
der Kunst setzt: die Reflexion, das andere Bild. Leider ist die Schau auch
etwas spannungslos gehängt. Weil der Eintritt zu ihr aber zum ersten Mal
frei ist, ist sie dann doch wieder zu einem öffentlichen Forum geworden.
Und überhaupt: Kunst wirkt, indem sie einen Raum des Denkens öffnet. Es
kommt nicht immer darauf an, wo sie steht.
Hito Steyerls „Is the Museum a battlefield“ oder Santiago Sierras
„Conceptual Monument“ erregen schließlich nicht weniger Aufmerksamkeit,
weil die Arbeiten im geschlossenen Raum gezeigt werden. Die Berliner
Künstlerin verfolgt in ihrem Video einer Sprachperformance die Spur einer
Patrone von einem Schlachtfeld im Südosten der Türkei bis zu ihrem
Hersteller, der mit der türkischen Koc Holding, dem Sponsor der Biennale,
zusammenhängt.
Und der spanische Konzeptkünstler hat die faszinierende Idee eines Platzes
ausgebrütet, das zum extraterritorialen Gebiet erklärt wird. Auf ihm
verzichtet die Regierung auf jede Ausübung von Hoheitsrechten. Nirgendwo
würde der Vorschlag, den Serra ursprünglich für Leipzig entwickelte,
brisantere Wirkung entfalten als an Istanbuls Taksim.
## Brisante Themen poetisch bearbeitet
Wie man brisante Themen poetisch bearbeiten kann, ohne sie zu verharmlosen,
zeigt Erkmens Landsmann Murat Akagündüz. So sanft wie sich in seinem Film
„Strom“ von 2013 das Mondlicht auf den dunklen Wellen von fünf Stauseen des
Euphrat spiegelt, macht das den blinden Raubbau an der Natur, der die
türkische Wirtschaftspolitik überall im Lande befeuert, deutlicher als
jeder Öko-Alarmismus.
Auch sonst konnten die Besucher unter den Werken der 88 Künstler viele
Entdeckungen machen, die ihre eigene Situation spiegelten, ohne sie zu
verdoppeln. In Fotoserien und historischen Plakaten können sie frühe
Beispiele von Stadtkämpfen studieren: von Paris über Amsterdam bis zur
US-Kleinstadt Braddock.
In Jirí Kovanda begegneten sie einem Vorläufer des als „Standing Man“
bekannt gewordenen Erdem Gündüz, der auf dem Taksim Kunstgeschichte
schrieb. Der tschechische Konzeptkunst-Pionier hatte eine ähnliche Aktion
1976 vor dem Prager Nationalmuseum mit der Kamera dokumentiert.
„Mom, am I barbarian“ hieß das Motto der Biennale, das Erdemci einem
Buchtitel der avantgardistischen Poetin Lale Müldür entlehnt hatte. Und
Anspielungen auf die treibende Rolle der Außenseiter und Marginalisierten,
die damit gemeint war, gab es zuhauf.
Nur Antworten auf die Suche nach einer „neuen Sprache für eine neue Welt“,
die Erdemci mit der poetischen Referenz evozieren wollte, bleibt die
Biennale schuldig. Agnieszka Polskas Pop-Film „Aurora“ über die Geschichte
einer polnischen Kommune in Indien verströmt nur melancholische Apathie.
„Die Hippies gibt es nicht mehr“, wird der Protagonist am Ende seiner Reise
belehrt. Und die regenbogenfarbene Substanz „Aurorit“, die er dort
schließlich findet, spiegelt die zwiespältige Sehnsucht nach dem
psychedelischen Wundermittel, das die Menschen in Katalysatoren des Wandels
verwandelt.
Vorerst gleicht die Lage, nicht nur in der Türkei, eher der Szenerie auf
Zbigniew Liberas Fotografie „First Day of Freedom“ von 2012. Da sitzen die
Überlebenden eines Befreiungskampfes mit zerfetzten Kleidern in dem Müll
der untergehenden Gesellschaftsordnung.
Hinter einer ausgebombten Hausruine explodieren zwei gleißende
Feuerwerkskaskaden in den pechschwarzen Himmel. Man fühlte sich an die
Abende zwischen brennenden Barrikaden vor dem Taksim erinnert.
26 Sep 2013
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Kunst im öffentlichen Raum
Tahrir-Platz
Deichtorhallen Hamburg
Spoken Word
Schwerpunkt Türkei
Kunstbetrieb
Kunst
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