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# taz.de -- Kurator über neue türkische Kunstszene: „Das hat etwas Ersticke…
> Der Kurator Vasif Kortun über die Kunst im Zeitalter der
> Nachöffentlichkeit, die Furcht vor einer Islamisierung und das gute Brot
> in Istanbul.
Bild: Der Istanbuler Kurator Vasif Kortun
taz: Herr Kortun, erinnern Sie sich noch an das Jahr 1992?
Vasif Kortun: Sehr gut sogar.
Sie kuratierten damals die Istanbul-Biennale. Sie gilt als ein Nukleus der
neuen türkischen Kunstszene.
Die Kunstszene damals war ganz anders konstruiert. Als ich nach meiner
Ausbildung aus Amerika kam, gab es nur sehr wenig Institutionen, die
zeitgenössische Kunst unterstützt haben: ein paar Galerien, eine Akademie
für Bildende Künste, die Marmara-Kunsthochschule, die sich am Bauhaus
orientierte. Trotzdem war es eine sehr gute Zeit.
Heute ist Istanbul eine international gefragte Kunststadt. Wie erklären Sie
sich diesen Aufstieg?
Ich bin nicht sicher, ob es so spezifisch mit Istanbul zu tun hat. Es hatte
auch mit der generellen Situation nach 1989 zu tun. Die Mauer in Berlin war
gefallen. Es war das Ende vieler Diktaturen. Überall begannen sich die
Menschen mehr an der Gesellschaft als am Staat zu orientieren: in Russland,
auf dem Balkan. Die Globalisierung hatte einen starken Einfluss.
Die Türkei öffnete sich auch …
Einige Staatsinstitutionen begannen sich aufzulösen. Es war vieles in
Bewegung damals. Es entstanden viele unabhängige Initiativen.
Ist denn die Akzeptanz für Kunst in der Gesellschaft derart gewachsen?
Sagen wir so: Kunst ist auf jeden Fall mehr zu einer Mainstream-Haltung
geworden.
Hatte die damals die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit?
Seit der Gründung der Republik zu Beginn der 20er Jahre dominierte der
klassische öffentliche Intellektuelle linkshumanistischer Prägung die
türkische Öffentlichkeit …
Und in den 90ern änderte sich das?
Ja. Die Essentials der Republik wurden damals infrage gestellt. Die Leute
reisten mehr. In den 70er Jahren war das unmöglich. Es war die Zeit der
Ölkrise, des Embargos nach der Zypern-Krise. In den Achtzigern begann sich
das zu ändern. Zu Beginn der 90er Jahre kam dann René Block aus
Deutschland, Beral Madra kuratierte 1994 ihre wichtige Ausstellung „Iskele“
in Deutschland.
Es folgten die Staatsausstellungen für Kunst. Mit dem Beginn der Gespräche
über den EU-Beitritt der Türkei normalisierte sich die Situation vollends.
Die Kunstszene orientierte sich an feministischen, politischen und
postkolonialistischen Ansätzen, begann Fotografie, Installation und
Alltagsgegenstände in ihre Arbeit zu integrieren. Es entstand ein neuer,
international erfahrener Künstlertypus.
War die Szene damals nicht kritischer?
Ja. Damals hatten wir noch Zeit. Wir saßen oft zusammen und sagten Nein zu
einer Menge von Dingen. Wir kehrten die Dinge von innen nach außen. Wir
stellten uns die Frage: Wo stehen wir in dieser Welt? Wir, das waren
Künstler wie Bülent Cangar, Aydan Murtezaoglu oder der Autor Erden Kosova.
Ist die Expansion des Kunstsystems seitdem ein Indiz für ein Erstarken der
Aufklärung?
Diese Expansion hat mit vielem zu tun. Ein Grund ist die Liquidität. Es ist
mehr Geld im Spiel. Auch viele Banken und Unternehmen legten sich
Kunstplattformen zu.
In Westeuropa grassiert die Furcht vor einer Islamisierung der Türkei. Die
Kopftuchpolitik, die Alkoholverbote. Wie bringt man diese gegenläufigen
Tendenzen auf einen Nenner – mehr Kunst, aber auch mehr Repression?
Ich habe viele Probleme mit der Regierung. Aber der Islam ist ehrlich
gesagt keins davon. Wir betrachten die Regierung hier nicht als eine
islamische. Und mit dem Wort Islamisierung beziehungsweise der Angst vor
ihr lässt sich die Komplexität dieses Landes nicht erklären. Religion
spielt überall in Europa eine größere Rolle: von Polen über Ungarn bis nach
Russland. Und bei dem Streit über das Kopftuch geht es um Freiheit. Sie
wollen den Leuten erlauben, zu tragen, was sie wollen. Die Türkei hat einen
religiösen Kern. Damit muss man hier leben. Meine Sorgen begännen erst,
wenn jemand mein Alltagsleben zu regulieren begänne. Aber ich sehe nicht,
dass das passiert.
Aber die Regierung begünstigt die religiösen Strömungen. Die
Predigerschulen zum Beispiel?
Damit hat nicht die gegenwärtige Regierung angefangen. Sondern die von
Suleyman Demirel. Das resultiert schon aus der Zeit unmittelbar nach der
Militärdiktatur. Aber schauen Sie sich die Kulturszene dieser Stadt an.
Keine der großen Institutionen, die hier entstanden sind, favorisiert
irgendetwas Religiöses. Natürlich könnte der Staat mehr für die Kultur und
den öffentlichen Sektor tun. Aber die Idee der alten Öffentlichkeit ist
überall verschwunden. Nicht nur in der Türkei. Wir erleben ein seismisches
historisches Beben. Wir leben in einem Zeitalter der Nachöffentlichkeit.
Was soll das heißen?
Wir leben in einer Ära prä 1750 und post 89. Die Öffentlichkeit und der
öffentliche Sektor sind keine gegebenen Größen mehr. Wir müssen sie neu
erfinden. Aber das ist kein lokales oder regionales Problem.
Zurück zur Türkei. Sie sehen auch nicht die Gefahr eines autoritären
Regimes? Jetzt will die AKP-Regierung sogar ein Präsidialregime einführen.
Ich hasse es, zugeben zu müssen, dass in der Türkei mehr Demokratie
existiert als jemals zuvor: Was Institutionen anbetrifft, was das Recht
anbetrifft, seine Rechte vor Gericht zu verfolgen, das Unterrichten der
kurdischen Sprache ist erlaubt. Wir bewegen uns nach vorne. Die Abwesenheit
von Gegenmacht hat etwas damit zu tun, dass die Mehrheit im Land sehr
glücklich mit dieser Regierung ist. Aus dieser Haltung bezieht die
Regierung ihre Arroganz und ihre Stärke.
Oppositionelle kritisieren die willkürlichen Verhaftungen. Ist die Türkei
eine heimliche Diktatur?
Es gibt nichts, was nicht besser gemacht oder geändert werden könnte. Aber
es ist nicht die Zeit für generelle Opposition. Jedes Problem, jedes Thema
muss einzeln ausgehandelt werden. Es geht um Allianzen und Oppositionen
gleichzeitig. Es gibt gute Politiken der Regierung. Wir haben zum Beispiel
keine genetisch manipulierte Nahrung in der Türkei. Neuerdings gibt es
gutes Brot in Istanbul, weil die städtischen Bäckereien organisches Brot
herstellen. Die Fischereipolitik. Da stehe ich aufseiten der Regierung.
Aber was sie mit unserem Wasser machen und den Staudämmen in
Südostanatolien, das ist schlecht. Man muss die guten Sachen unterstützen
und die schlechten bekämpfen.
Die Verhaftung von Journalisten zum Beispiel? Immerhin sitzen rund 90 von
ihnen in Haft.
Wenigstens ist die Türkei an einer Front die Nummer eins in der Welt. Die
Unterdrückung abweichender Stimmen mit allen möglichen Mitteln war der
eherne Standard dieses Landes für eine sehr lange Zeit. Das hat etwas
Erstickendes und blockiert enorme Potenziale.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem boomenden Kunstsystem der Türkei
und deren Regionalmachtambitionen?
Einerseits schon. Aber der imperiale Reflex der Politik und der Reflex der
Kunstszene – das sind zwei verschiedene Dinge. Wir haben mit vielen
Künstlern der Region kooperiert, bevor sich die Regierung dieser Politik
zuwandte. Dabei habe ich viel über die arabische Moderne gelernt. Ich
weigere mich auch, alles mit der Kategorie Türkei zu diskutieren. So
schauen wir nicht auf die Welt. Unser Haus hier, Salt, ist eine
internationale Institution, based in Istanbul sozusagen.
Zumindest die Istanbuler Kunstmesse ist von einer Expansionssucht
getrieben.
Das stimmt. Der Markt nimmt überhand. Auf die eine oder andere Art sind wir
Teil davon, auch wenn uns das vielleicht nicht gefällt. Aber wir versuchen,
dem entgegenzuwirken. Indem wir zum Beispiel mit nichtkommerziellen
Institutionen und Initiativen arbeiten. Unsere Archive für die
Öffentlichkeit öffnen. Trotzdem sind wir nicht das Korrektiv des Marktes.
Das hat sich entkoppelt. Das ist eine neue Situation. Der Markt hat seine
Logik. Er ist vollgestopft mit überteuertem Mist. Und es gibt die Logik der
guten Sachen.
Ein Bild des türkischen Künstlers Halil Altindere heißt „Portrait of a
Dealer“. Es zeigt den Künstler, der dem Galeristen Baras ein Werk über den
Kopf haut, das einen Rekordpreis auf einer Auktion erzielt hat. Das ist
eine Kritik an der Kapitalisierung der Szene?
Das ist fast eine liebevolle Kritik. Denn diese Kapitalisierung basiert auf
einem Konsens. Der Konsens zwischen dem Dealer, der erlaubt hat, dass ihm
das passiert. Und dem Künstler.
Ist die Kunst inzwischen auch in der Türkei das liebste Spielzeug der
Bourgeoisie?
Das ist auf jeden Fall so. Man hofft natürlich trotzdem, dass sie durch
diesen Prozess lernt. Dass die Dummen wegbleiben und einige etwas lernen,
was besser für ihr Leben ist wie auch für das Leben anderer Menschen.
19 Mar 2013
## AUTOREN
Ingo Arend
Ingo Arend
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Kunstbetrieb
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Sinti und Roma
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