# taz.de -- Kunstmesse Istanbul: Plötzlich haben alle Blut geleckt | |
> Begehrtes Drehkreuz zwischen Europa und Asien: Die Kunstmesse | |
> Contemporary Istanbul lebt von der Hoffnung auf zukünftige Profite. | |
Bild: „Art is all about desire and signature“ hat Altindere seine neueste A… | |
Resident Evil. Manche Besucher stutzten, als sie die holzschnittartige | |
Arbeit aus schwarzem Glas am Stand der Istanbuler Galerie Alan sahen. Eine | |
Frau in Trekking-Hosen mit Hammer und Sichel in der Hand, links von ihr ein | |
umgestürztes Straßenschild mit der Aufschrift Wall Street, rechts ein | |
umgestürztes Sparschwein. Stürmt die Occupy-Bewegung jetzt auch Istanbul? | |
Dergleichen steht nicht zu befürchten. Zwar war die Arbeit des türkischen | |
Künstlers Turgut Yüksel, der auch als Kolumnist der einst linksliberalen | |
Tageszeitung Radikal arbeitet, nicht die einzige, die sich kritisch mit der | |
Rolle des Geldes in der Kunst auseinandersetzte. | |
Denn wenn eine Botschaft von der 7. Kunstmesse Contemporary Istanbul (CI) | |
ausging, auf der Yüksels Arbeit gezeigt wurde, dann die, dass der Angriff | |
des Marktes auf eine der spannendsten Kunstszenen Europas in eine heiße | |
Phase tritt. | |
An den Preisen und der Qualität lässt sich das am Bosporus noch nicht | |
ablesen. Auch wenn die CI in diesem Jahr mit der Londoner Galerie Haunch of | |
Venison und dem New Yorker Nobelladen Marlborough zwei Topadressen auf die | |
Messe locken konnte. | |
Die 400.000 Euro, die ein türkischer Sammler für ein Bild Andreas Gurskys | |
hinblätterte, machen Istanbul aber noch nicht zum Hot Spot der Blue-Chips. | |
Und die Länderschwerpunkte zu Osteuropa und den Niederlanden eröffneten | |
deutlich weniger ästhetische Horizonte als die zu den Golfstaaten und zum | |
Iran in den letzten beiden Jahren. | |
## Nahstelle zwischen Europa und Asien | |
Doch wie kaum eine andere Kunstmesse weltweit profitiert die CI von den | |
Hoffnungen auf Fantasieprofite an der prosperierenden Nahstelle zwischen | |
Europa und Asien, Islam und Abendland. Für Vasif Kortun, den Direktor des | |
Kunsthauses Salt, einen der wichtigsten Kuratoren der türkischen | |
Gegenwartskunst, wächst aus der Mischung aus dem ökonomischem Boom im Land | |
und den Regionalmacht-Ambitionen der AKP-Regierung gar ein „imperialer | |
Reflex“. | |
Wie der auf das Kunstsystem abfärbt, war schon im vorigen Jahr zu sehen, | |
als die bislang eher unbedeutende Regionalmesse ihr Ausstellungsterrain | |
verdoppelte und plötzlich wie die Art Basel aussah. „Wir sind zum Hub | |
geworden und müssen damit umgehen“, rechtfertigte Hasan Bülent Kahraman, | |
ihr Generalkoordinator, die Expansion. Messechef Ali Güreli sagte es | |
deutlicher: „Es ist eine gute Zeit, in türkische Gegenwartskunst zu | |
investieren.“ Plötzlich haben am Kunstmarkt Türkei alle Blut geleckt. | |
Der Talk of the Town war die Konkurrenzmesse, die im nächsten Herbst – | |
zeitgleich zur Istanbul-Biennale – aus dem Boden gestampft werden soll. Die | |
luxuriöse Party, mit der unbekannte Investoren auf der Londoner Frieze im | |
Oktober das Projekt promoteten, gab einen Vorgeschmack auf den Zweikampf, | |
der am Bosporus bevorsteht: Der Angriff auf das Hub Istanbul hat begonnen. | |
Das heißt nicht, dass es dort gar nicht mehr um Kunst ginge. Die Kunstwoche | |
„Artistanbul“, die die Veranstalter wie einen Cordon sanitaire um die Messe | |
gelegt hatten, bot reichlich Gelegenheit, die gute Kunst und die kritischen | |
Potenziale zu sichten, nach der man auf der Messe sehr lange suchen musste. | |
Von den Bildern Monets im privaten Sabanci-Museum über die | |
kapitalismuskritische Design-Biennale bis zum ägyptischen Videokünstler | |
Hassan Khan. | |
## Kritik des Marktes | |
Doch langsam droht die Kunst ihre Rolle als kritische Ersatzöffentlichkeit | |
zu verlieren. Selbst der New York Times erschien die heiß gelaufene Szene | |
kürzlich wie ein „Art Bubble Game“. Und die Istanbuler Kunstmesse | |
entwickelt sich jetzt zur Speerspitze dieses Spekulationsspiels. Auch wenn | |
sie jetzt nichtkommerzielle Projekträume einlädt. Umso wichtiger wird die | |
Kritik des Marktes. | |
Joseph Kosuth, der legendäre US-Konzeptkünstler, hatte schon recht, als er | |
daran erinnerte, dass dieser Angstgegner geistige Bedeutung in ökonomische | |
verwandelt. „Der größte Feind der Kunst ist der Markt“, rief er auf einem | |
der Istanbuler Art-Talks. Wie man aber seine Mechanismen offenlegen kann, | |
ohne in die Pauschalkritik der achtziger Jahre zurückzufallen, zeigte der | |
türkische Künstler Halil Altindere. | |
Statt dem türkischen Sammler Mustafa Taviloglu ein Kunstwerk für 43.000 | |
türkische Lira zu liefern, vergrößerte der Guru der türkischen Politkunst | |
den Scheck des Mäzens und machte ihn – sauber eingerahmt – zum | |
unverkäuflichen Kunstwerk. | |
„Art is all about desire and signature“ hat Altindere seine neueste Arbeit | |
genannt. Mit der er ein schönes Bild für die Wertverwandlung fand, um die | |
es auf Kunstmessen geht. Mit der er aber auch abbildet, worauf der Künstler | |
immer hofft. Selbst der Widerständigste ist nämlich immer Teil des Systems. | |
26 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
## TAGS | |
Kunst | |
Kunstmarkt | |
Istanbul | |
Kunst im öffentlichen Raum | |
Schwerpunkt Türkei | |
Theater | |
Kunstbetrieb | |
Schwerpunkt Türkei | |
Rosa von Praunheim | |
Israel | |
Ausstellung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
13. Istanbul Biennale: Den Raum des Denkens öffnen | |
Die 13. Istanbul Biennale zieht sich im Zweifrontenkrieg zwischen | |
Staatsmacht und Bewegung auf klassische Konzepte zurück. | |
Buch zur türkischen Zivilgesellschaft: Die Stunde Null ist lange her | |
Wer glaubt, die türkische Zivilgesellschaft gebe es erst seit den | |
Taksim-Protesten, täuscht sich. Ein Buch der Frankfurter Politologin Anil | |
Al-Rebholz klärt auf. | |
Backstageproduktion auf die Bühne: Katholizismus und Testosteron | |
Der türkischstämmige Bayer Adbullah Karaca kreierte den Überraschungserfolg | |
„Arabboy“. Nun ist er beim Münchener „Radikal Jung“-Theaterfestival da… | |
Kurator über neue türkische Kunstszene: „Das hat etwas Erstickendes“ | |
Der Kurator Vasif Kortun über die Kunst im Zeitalter der | |
Nachöffentlichkeit, die Furcht vor einer Islamisierung und das gute Brot in | |
Istanbul. | |
Archäologie in der Türkei: Tourismus und Nationalstolz | |
Die Türkei will stärkeren kommerziellen Nutzen aus ihren antiken Stätten | |
ziehen. Ausländischen Archäologen werden jedoch die Grabungslizenzen | |
verweigert. | |
ORTE DER GEGENWARTSKUNST: "Mir ist die Debatte wichtig" | |
Ob das Museum Weserburg in die Überseestadt zieht, ist sekundär, findet | |
Carsten Werner: Hauptsache, Bremen denkt öffentlich über zeitgenössische | |
Kunst nach | |
Von Praunheim hat Geburtstag: Hui, Rosa! Schon 70! | |
Regisseur, Autor, Krawallschwester, Kämpfer: Rosa von Praunheim, einer der | |
Wegbereiter der modernen deutschen Schwulenbewegung, wird 70. | |
Israels Künstler fordern Dialog mit Gaza: Gegen die Angst | |
Die Waffenruhe ist fragil, die Furcht vor weiteren Raketen akut. Israels | |
Künstler fordern dennoch einen Dialog mit den „Feinden in Gaza“. | |
Ausstellung in Österreich: „Nackte Männer“ irritieren mehr | |
Das Wiener Leopold Museum zeigt „Nackte Männer“. Die Ausstellung | |
präsentiert unschuldig badende Knaben von Munch ebenso wie den drastischen | |
Latexphallus. |