| # taz.de -- Buch zur türkischen Zivilgesellschaft: Die Stunde Null ist lange h… | |
| > Wer glaubt, die türkische Zivilgesellschaft gebe es erst seit den | |
| > Taksim-Protesten, täuscht sich. Ein Buch der Frankfurter Politologin Anil | |
| > Al-Rebholz klärt auf. | |
| Bild: Istanbul im Juli 2013. Die Proteste gegen den Umbau der Stadt sind keines… | |
| Die Geburt der türkischen Zivilgesellschaft. So unterschiedlich die Medien | |
| im Juni die bürgerkriegsartigen Szenen um den Gezi-Park im Zentrum | |
| Istanbuls bewerteten, in einem Punkt waren sie sich alle einig. Der Versuch | |
| der Regierung des islamischen Ministerpräsidenten Erdogan, den Widerstand | |
| gegen seine Pläne zum Stadtumbau gewaltsam zu ersticken, hat der Türkei | |
| etwas beschert, was sie vorher nicht hatte: eine demokratische Opposition. | |
| Wie wenig die journalistische Parole einer zivilgesellschaftlichen „Stunde | |
| Null“ am Bosporus mit der Realität übereinstimmt, kann man jetzt in einem | |
| Buch nachlesen, das schon im Frühjahr erschien, aber weitgehend unbeachtet | |
| blieb. Darin datiert die Frankfurter Politologin Anil Al-Rebholz die | |
| „Geburt“ der türkischen Zivilgesellschaft weit vor den jüngsten | |
| Ereignissen. | |
| Die Idee, den Militärputsch von 1980 als Ausgangspunkt der neuen | |
| Zivilgesellschaft zu sehen, erscheint zunächst paradox. Klingt aber um so | |
| logischer, wenn man sich daran erinnert, dass in den Jahren von 1980 bis | |
| 1983 alle politischen Organisationen verboten waren. Wer sich irgendwie mit | |
| den damaligen Ereignissen auseinandersetzen wollte, musste also in eine | |
| nichtpolitische Gruppe gehen. | |
| ## Pioniere sind Frauen- und Menschenrechtsgruppen | |
| Als sichtbare Zäsur setzt Al-Rebholz spätestens das Jahr 1996 an. Damals | |
| erschien in der Tageszeitung Hürriyet erstmals die Schlagzeile „Die | |
| Zivilgesellschaft steht bereit“. Doch schon 1995 existierten nach | |
| offiziellen türkischen Schätzungen fast 4.000 Organisationen, die sich | |
| unter diesem Begriff subsumieren ließen. | |
| Die Pionierrolle bei der Etablierung der jüngeren türkischen | |
| Zivilgesellschaft nehmen für Al-Rebholz die neue Frauen- und die | |
| Menschenrechts-Bewegung ein. Schon 1975 gründete sich in Istanbul der | |
| „Fortschrittliche Frauenverein“ (IKD) der Türkei. 1986 folgte die größte | |
| Menschenrechtsorganisation IHD, die auch bei den Gezi-Kämpfen eine wichtige | |
| Rolle spielte. | |
| Al-Rebholz‘ Buch ist ihre Doktorarbeit aus dem Jahr 2009 an der Universität | |
| Frankfurt, wo sie heute Gesellschaftswissenschaften lehrt. Die Datenbasis | |
| liegt also schon einige Jahre zurück. Wer sich von der sperrigen Sprache | |
| und Struktur solcher akademischen Pflichtübungen nicht abschrecken lässt, | |
| dem wird sie zu einer wertvollen Erkenntnisquelle über die türkische | |
| Gesellschaft – so wie sie Theorie und Empirie kombiniert: Sie lässt die | |
| Entwicklung der Intellektuellen vom Osmanischen Reich bis zur türkischen | |
| Republik Revue passieren. Oder zeichnet die Versuche nach, den Islam als | |
| „kulturellen Zement“ der türkischen Gesellschaft zu instrumentalisieren. | |
| ## Das Militär ist gar nicht säkular | |
| Eine Strategie, der sich besonders das Militär verschrieb. Die Generäle | |
| machten nach dem Militärputsch 1980 den Religionsunterricht an den Schulen | |
| obligatorisch, richteten landesweit Korankurse ein und bedachten die | |
| religiösen Stiftungen mit Staatsknete. So wie sie da unter dem Motto | |
| „Moschee, Kaserne, Familie“ eine ideologisches Bollwerk gegen links zu | |
| errichten versuchten, straft das ihr gern proklamiertes Selbstbild von | |
| „Atatürks Soldaten“ als den berufenen Hütern des Säkularismus‘ Lügen. | |
| Das Gegenteil ist wahr: Sie legten überhaupt erst die Fundamente für den | |
| allmählichen Aufstieg der islamischen Parteien zunächst von Necmettin | |
| Erbakan, später dann von dessen erfolgreicherem Ziehsohn, dem gegenwärtigen | |
| Premierminister Erdogan. | |
| Al-Rebholz erinnert auch an weniger bekannte Strukturprobleme der | |
| türkischen Zivilgesellschaft: das erst Ende der 90-er Jahre wieder | |
| abgeschaffte Politik- und Bündnisverbot für ihre Organisationen etwa. Eine | |
| Interview-Serie mit Protagonisten der Frauen- und Menschenrechtsbewegung | |
| bringt Leben in die viele Theorie, die in diesem verdienstvollen Buch | |
| steckt. | |
| ## Weniger Staat: Das ist auch eine neoliberale Losung | |
| Interesse verdient vor allem Al-Rebholz‘ Beobachtung, dass das Aufkommen | |
| des Diskurses über die Zivilgesellschaft in der Türkei parallel zum | |
| weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus verläuft. Ausgehend von den | |
| Theorien des italienischen Marxisten Antonio Gramsci sieht sie dessen | |
| allmähliche Durchsetzung als „Teil von einem Kampf um die Hegemonie“ nach | |
| dem Militärputsch von 1980. Damals galt es, die brüchig gewordene | |
| Gründungsideologie der Kemalisten zu ersetzen. Und das Verständnis von | |
| Staats- und Regierungshandeln neu zu definieren. | |
| Erdogans neoliberale Agenda ist der Beweis für den Erfolg dieses Diskurses. | |
| Er markiert ein nicht nur für die Türkei typisches Dilemma. Dem Mehr an | |
| Zivilgesellschaft samt dem kritischem Bewusstsein seiner Akteure steht die | |
| wachsende Akzeptanz der Aspekte eines Begriffes entgegen, der zum Kern des | |
| Neoliberalismus gehört: Abbau des Staates. | |
| 31 Jul 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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