# taz.de -- Debatte Regierungsbeteiligung der SPD: Remembering Bebel | |
> Es ist möglich, von jenseits der Regierungsbank Politik zu machen. Gerade | |
> die Sozialdemokraten wissen das. Sie könnten jetzt viel erreichen. | |
Bild: Franz Müntefering (re.) bei der August-Bebel-Gedenkfeier im August 2013. | |
Opposition ist Mist. Lasst das die anderen machen. Kein Wunder, dass der | |
alte Spruch des gewesenen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering dieser Tage | |
besonders gern zitiert wird. | |
Das lakonische Bonmot, mit dem er seine Bewerbungsrede für den SPD-Vorsitz | |
2004 krönte, passt zu dieser denkwürdigen Bundestagswahl wie die Faust | |
auf‘s Auge. Und es verfehlt seine Suggestivwirkung nicht, wie nicht zuletzt | |
das Votum des jüngsten SPD-Konvents gezeigt hat. | |
Nur: Was ist eigentlich schrecklicher? Dass der Spruch ständig in den | |
Medien geloopt wurde? Oder der Spruch selbst? Im Nachhinein wundert man | |
sich immer noch, dass es jemand mit dieser waghalsigen Formel überhaupt zum | |
Chef der „größten der Parteien“ bringen konnte. Im | |
Politikwissenschafts-Propädeutikum wäre Müntefering mit dieser | |
macchiavellistischen Binse jedenfalls nicht durchgekommen. | |
Denn als was anderes denn als eine oppositionelle Bewegung hat die | |
Sozialdemokratie einst das Licht der Welt erblickt? Als Ferdinand Lasalle, | |
August Bebel und Wilhelm Liebknecht Ende des 19. Jahrhunderts auf den Plan | |
traten, schielten sie nicht darauf, mit dem Eisernen Kanzler Otto von | |
Bismarck Koalitionsverhandlungen „auf Augenhöhe“ zu führen. | |
## Eine faszinierende Strategie | |
Die neue soziale Bewegung sollte Merkels Vorgänger durch ihre bloße | |
Existenz von der Bildfläche fegen. Auch ein Blick in die Weltgeschichte | |
hätte Müntefering darüber belehren können, dass Opposition eine ebenso | |
legitime wie faszinierende Strategie ist. | |
Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela haben es vorgemacht. Vor | |
der berüchtigten „Außerparlamentarischen Opposition“ der sechziger Jahre | |
gruseln sich noch heute die Restbestände des damaligen bürgerlichen Lagers. | |
Vom Ruhrkampf 1923 bis zur Friedensbewegung der alten Bundesrepublik in den | |
achtziger Jahren hat der Geist der Opposition politische Kurswechsel von | |
historischem Ausmaß durchgesetzt. Im Kaiserreich galt der Generalstreik als | |
Zauberwaffe. Später entdeckte man den „passiven Widerstand“ oder den | |
„zivilen Ungehorsam“. | |
„Antipolitik“ wird man der parlamentarisch fixierten SPD vielleicht nicht | |
empfehlen wollen. Die „Gegenmacht, die nicht an die Macht kommen kann und | |
das auch nicht will“, weil sie „auch so schon Macht, nämlich aufgrund ihres | |
moralisch-kulturellen Gewichts“ besitzt, wie der ungarische Romancier | |
György Konrad 1984 schrieb, ist passé. Nach der Auflösung der KPdSU sind | |
die Lebenswelten nicht mehr derart von der Politik kolonisiert wie noch zu | |
Zeiten des Kalten Kriegs. Im vormaligen Ostblock waren die Dissidenten mit | |
ihr aber ganz schön weit gekommen. | |
## So beginnt jede Revolution | |
Normale Opposition geht immer noch gut. Die „Orangene Revolution“ in der | |
Ukraine hat Wiktor Juschtschenko an die Macht gebracht. Die arabische | |
Rebellion hat mit ihrer Opposition erst die tunesische, dann die ägyptische | |
Diktatur gestürzt. Wieviel Kraft strahlte Erdem Gündüz‘ „Standing Man“… | |
Istanbuls Taksim aus! Und das soll alles Mist sein? Bei Lichte betrachtet, | |
hat jede Revolution mit einer konsequenten Opposition begonnen. Die | |
Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. | |
Historisch muss man also ganz schön blind sein, um diese Politikoption | |
derart schmallippig zu den Akten zu legen. Trotzdem ist Münteferings Credo | |
aufschlussreich. Bringt es doch ein Defizit der Sozialdemokratie zum | |
Vorschein: Ihren ewigen etatistischen Kurzschluß. Politik wird nicht | |
gesellschaftlich gedacht, sondern immer nur gouvernemental. | |
Wenn Peer Steinbrück, Ernst Bloch plündernd, behauptet, „ins Gelingen | |
verliebt“ zu sein, meint er wohl: ins Administrieren. Peter Glotz lachte | |
sich in der Toskana noch die Zivilgesellschaft an, den Kern von Antonio | |
Gramsci‘s Hegemoniekonzept. Pragmatismus pur heißt der abgehungerte | |
Politikbegriff, der die „Programmpartei“ SPD im Würgegriff hält: Machen, | |
„kümmern“, malochen. Aber wofür? | |
Opposition heißt nicht, sich den süßen Wonnen des Verweigerns hinzugeben. | |
Selbst wenn die SPD heute nicht mehr die Gewissheit des materialistisch | |
unaufhaltsamen Gangs der Geschichte auf ihrer Seite haben kann, die noch | |
Bebels Truppe antrieb. Eine intelligente SPD-Opposition kann jeder | |
Regierung Zugeständnisse abringen und sozialen Fortschritt initiieren. | |
Mit revolutionärer Hinhaltetaktik würde die SPD bald wieder an der Spitze | |
der Avantgarde marschieren. Unter Intellektuellen hat das Nein-Sagen | |
derzeit ohnehin Konjunktur. Die Antwort auf die Zumutungen allgegenwärtiger | |
Interaktivität, zum Beispiel in Koalitionen, heißt „Interpassivität“. Das | |
Stichwort zur geistigen Situation der Zeit ist der berühmte Satz aus | |
Hermann Melvilles Erzählung Bartleby, der Schreiber: „I prefer not to“. Und | |
für den slowenischen Philosophen Slavoj Zizek hilft gegen die Zumutungen | |
der vollendeten Postdemokratie sowieso nur noch die „passive Revolution“. | |
## Wiedervereint im Verein | |
Bei der Gelegenheit ließe sich die Sozialdemokratie auch als soziale | |
Bewegung neu erfinden. Nicht umsonst hieß sie zu Beginn „Arbeiterverein“. | |
Und eine Wiedervereinigung ist auch heute noch möglich, durch Initiativen | |
mit den Gewerkschaften, gegen Arbeitslosigkeit, für einen Mindestlohn, und | |
zwar auf „Augenhöhe“ mit den Arbeitern. Dass die SPD derzeit die | |
lebendigere Alternative zum Angie-Fanclub CDU wäre, wird angesichts der | |
tiefschwarz eingefärbten Wahlkreisrepublik jedenfalls niemand behaupten. 20 | |
Jahre Wettbewerb „lebendiger Ortsverein“ haben nichts daran geändert, dass | |
diese revolutionäre Keimzelle heute einem Paradebeispiel des Paradigmas von | |
der „hegemonialen Ohnmacht“ ähnelt. | |
Zu Zeiten, wo selbst der Pop auf Retromania setzt, lohnt es deshalb daran | |
zu erinnern, dass Bebels Oppositions-Formation erfolgreicher war, als der | |
Verein hasenfüßiger Reformisten, der die emanzipationspolitische gegen die | |
staatspolitische Verantwortung eingetauscht hat. Und zu jedem nationalen | |
Schulterschluss bereit ist, solange nur niemand „vaterlandslose Gesellen“ | |
ruft. Von dem man im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung aber | |
endlich einmal gewusst hätte, was das denn heute sein könnte: | |
Demokratischer Sozialismus. | |
6 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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