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# taz.de -- Design-Biennale in Istanbul: Design und Revolution
> Ist Design der Schlüssel zum Weltmarkt? Die 1. Design-Biennale in
> Istanbul setzt auf die Werkzeuge sozialer und ökologischer Veränderungen.
Bild: In Zukunft werden wir uns die Staubsauger aus dem Netz laden und ausdruck…
Agent der totalitären Konsumwelt. So rechnete der amerikanische
Kunstkritiker Hal Foster mit dem Design ab. Schon der Titel seines letzten
Buches verriet, was er von dem ubiquitär gewordenen Genre Design hält. Frei
nach Adolf Loos‘ kunsthistorischem Klassiker „Ornament und Verbrechen“
nannte er den Band programmatisch - „Design und Verbrechen“.
Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass dieses verrufene Genre viel mehr
sein kann als der ästhetische Knecht der Überproduktion, dann dürfte ihn
die 1. Design-Biennale geliefert haben, die vergangenes Wochenende in
Istanbul eröffnete. Deren Besucher bekamen nämlich gerade keine polierten
Oberflächen, Markenklamotten und global brands zu sehen. Sondern Module aus
gräulichem Plastik oder unbehandeltem Stahl. Und etwas, was man in coolen
Kreativstudios selten findet: Anleitungen zum zivilen Ungehorsam.
Dass diese Design-Biennale gerade jetzt am Bosporus veranstaltet wird, ist
kein Zufall. Auf der einen Seite komplettiert die verdienstvolle Istanbuler
Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV), ohne die im türkischen Kulturleben
fast nichts geht, mit ihrem jüngsten Baby ihre Produktpalette. Zu ihrem
Jazz-Fest, dem Theater-Festival, dem Film-, Musikfest und ihrer berühmten
Kunst-Biennale kommt nun auch eine zum Design.
Historisch gesehen war das Auftauchen des Design in der Türkei aber immer
auch Indiz eines gesellschaftlichen Modernisierungsdrucks. Das gilt für das
Jahr 1830, als Sultan Mahmud II. seiner Armee eine neue Uniform nach
französischem Vorbild verpasste und den Fes als Kopfbedeckung einführte.
Den Mustafa Kemal Atatürk hundert Jahre später durch einen europäischen Hut
ersetzte - zwei der ersten Design-Acts in der türkischen Geschichte.
## Symbolische Qualitäten
Heute will die Türkei den Weltmarkt erobern. Bis 2023, dem 100. Jahrestag
der Republikgründung, will sie zu den zehn Topökonomien der Welt gehören.
Weil es da auf symbolische Qualitäten ankommt, schielt auch das Land am
Bosporus auf die Creative Industries. Doch was in Istanbul zu sehen ist,
will nicht so recht zur Idee vom Design als dem „Schlüssel zum
internationalen Wettbewerb“ passen. Obwohl den Bülent Eczasibasi noch zur
Eröffnung beschwor. Er ist in Personalunion Chef des Industriekonzern, dem
die IKSV-Stiftung gehört und zugleich deren Chairman. Zu offensichtlich
haben es die über 300 Designer, die die Kuratoren der Schau, der türkische
Architekt Emre Arolat und der Mailänder Designjournalist Joseph Grima, nach
Istanbul eingeladen haben, auf eine Gesellschaft abgesehen, in der anders
gelebt, gearbeitet und produziert wird.
“Imperfection“, das Motto der Schau, entlehnten die Veranstalter der
Ästhetik einer Stadt, der das Unperfekte und Provisorische zur zweiten
Natur geworden ist. Ihm entspricht Jesse Howards Projekt „Transparent
Tools“. Denn die Kaffeemühle, der Staubsauger und der Wasserkocher, die der
niederländische Designer entworfen hat, kommen ganz ohne spektakuläre
Formensprache aus. Howards hat die Alltagsgegenstände aus frei verfügbaren
Modulen einer Open-Source-Website zusammengefügt. Die der Verbraucher mit
einem 3D-Drucker zu Hause selbst herstellen und zusammensetzen kann. Hier
entwirft der Designer keine verehrungswürdige Ikone mehr. Stattdessen lernt
der Verbraucher, die Komplexität technischer Garäte zu verstehen. Er kann
sie selbst reparieren oder neu zusammensetzen.
Das markiert nicht nur einen Paradigmenwechsel innerhalb des Genre. Sondern
auch die Abkehr von der bürokratisch gelenkten, industriellen
Massenproduktion. Nichts anderes meint Joseph Grimas „Adhocracy“
übertitelter Ausstellungsteil. Hier wird das Design zum Pionier des
Postfordismus.
Das Markanteste an dieser Schau: Wie häufig hier die Grenze zum Aktivismus
ins Fließen gerät. Das fängt bei den Bierflaschen an, die der
niederländische Designer John Habrakens schon 1963 für die
Heineken-Brauerei entwickelte: Die ziegelsteinförmigen Glasbehälter lassen
sich nach Gebrauch zum Hausbau verwenden. Und hört bei Acik Kents
Open-Urban-Projekt auf. In einer Megacity wie Istanbul, wo über Nacht ganze
Stadtviertel - wie in diesen Tagen der historische Bezirk Tarlabasi -
planiert werden, bedeutet diese Plattform, auf der Informationen über die
Machenschaften der Stadtplanung gesammelt und geteilt werden, eine
Revolution.
## Verbrechen sehen anders aus
Mit „Formgebung“ im klassischen Sinn haben auch das „Imagine“-Projekt d…
mexikanischen Architekten Pedro Reyes oder der „Drohnenjournalismus“ der
polnischen Designer von Robokopter nichts zu tun. Der eine hat illegale
Waffen aus dem Drogenkrieg eingesammelt und zu Musikinstrumenten umbauen
lassen. Die anderen haben eine Drohne entwickelt, mit der Aktivisten die
Einsatzplanung der Polizei bei Demonstrationen ausspähen können. Es sind
Arbeiten wie diese, mit denen das junge Design in Istanbul einen Staunen
machenden Musterkoffer sozial-ökologischer Gesellschaftsveränderung öffnet
-derjenigen, die der Politik nie recht gelingen will.
Nicht alle Ideen dürften zu der großen Veränderung führen, die vielen
Designer vorschwebt. Ihr größtes Verdienst liegt aber darin, einem
Massenpublikum einen Begriff von Design als sozial-ökologischem
Reformprozess näherzubringen. Bei dem die Bereitschaft zur kritischen
Reflexion über die Folgen des eigenen Handelns zur ideologischen
Grundausstattung gehört.
Eindrucksvoll demonstrierte das die Modemacherin Bahar Korcan. Als die
international ausgezeichnete Künstlerin, Jahrgang 1970, vor acht Jahren
ihre Boutique in dem verfallenen Quartier um Istanbuls Galata-Turm
eröffnete, war das der Startschuss für die rapide Gentrifizierung eines von
kleinen Handwerkern und armen Leuten bewohnten Viertels. Zur Biennale hat
Korcan eine Videoinstallation mit dem Titel „Precise Rhythms“ beigesteuert.
Zwischen Kleidern und Entwürfen aus Korcans Kollektionen erzählen ihre
Nachbarn von den Veränderungen in der Serdar-i Ekrem-Straße in Galata.
Verbrechen sehen anders aus.
## Imperfection. 1. Istanbuler Design-Biennale. Noch bis zum 12. Dezember
2012. 3 Kataloge, zusammen 135 Lira/65 Euro
16 Oct 2012
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
Biennale
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