# taz.de -- Filmstart Biennale Gewinner „Pietà“: Hang zur Perfektion | |
> Ein Müllleben in der Müllwelt ist süßer Schmerz und Poesie der | |
> Grausamkeit. Regisseur Kim Ki-duk stellt auch bei „Pietà“ die eigene | |
> Virtuosität aus. | |
Bild: Schauspielerin Cho Min-soo und Regisseur Kim Ki-duk. | |
In den Gassen des heruntergekommenen Viertels von Seoul, in dem „Pietà“ | |
spielt, stapelt sich der Müll. Es ist eine herbstlich-kalte, gänzlich | |
anmutfreie Welt der verwinkelten Gassen, der verbeulten Abwasserrohre, der | |
schäbigen Werkstätten, in denen verlumpte Eheleute sich damit abplagen, | |
kleine Metallstücke zurechtzubiegen, von denen sich nicht sagen lässt, | |
welche Funktion sie einmal in welcher Maschine haben werden. Eine private | |
Welt abseits der mühsamen Arbeit scheint es nicht zu geben: Müllleben in | |
der Müllwelt. | |
Viel ist das Leben dieser Leute nicht wert, hochverschuldet sind sie alle. | |
Kang-do (Jung-jin Lee), den der karge Luxus eines kleinen Apartments von | |
der Lebensrealität der geschundenen Arbeiter trennt, treibt die Schulden | |
für den Kredithai aus dem sauberen Büro ein. Wer nicht zahlen kann – es | |
können, merkt man bald, die Wenigsten –, wird von Kang-do, ohne mit der | |
Wimper zu zucken, „verkrüppelt“: Hand in die Maschine, „Betriebsunfall�… | |
Die Versicherungsprämie deckt den zu tilgenden Betrag. | |
„Pietà“ fügt sich nahtlos ein in Kim Ki-duks Reihe von Filmen über | |
drastische emotionale Erfahrungen im Grenzbereich äußerster Intimität: In | |
„Samaria“ schläft die Freundin einer Prostituierten nach deren Tod mit all | |
deren Freiern. In „Bad Guy“ zwingt ein Zuhälter eine Frau in die | |
Prostitution, die sich schließlich in ihn verliebt. In „Pietà“ entwickelt | |
sich eine intime Nähe zu einer rätselhaften Frau (Min-soo Jo), die nach | |
sorgsam tastender Annäherung in an Selbstverneinung grenzender Büßerhaltung | |
Kang-dos Nähe sucht. | |
Dass sie seine Mutter sein soll, die ihn verlassen hat, als er noch ein | |
Säugling war, kommt ihr lange nicht über die Lippen, man ahnt es bloß. | |
Kang-do vergewaltigt sie, lässt sie dann in sein Leben. Einmal holt sie ihm | |
einen runter. Mit der wiedergefundenen Mutter treten erstmals Empathie und | |
menschliche Wärme in Kang-dos Leben – und damit erstmals etwas, das ihm | |
entrissen werden kann: eine Zielscheibe für Rachepläne. | |
## Dei schwere Schaffenskrise | |
Anfang des Jahres lief „Arirang“ im Kino, Kim Ki-duks Selbstporträtfilm | |
über eine schwere Depression, die den lange Zeit für seine kontroversen | |
Filme gefeierten Festivalliebling des koreanischen Filmwunders der frühen | |
Nullerjahre in eine schwere Schaffenskrise stürzte. | |
Darin geißelt und demütigt sich der Regisseur unter kargsten | |
Lebensbedingungen, beschimpft sich der Anmaßung und Selbstverliebtheit: ein | |
Büßerfilm mit altchristlicher, ingrimmiger Freude am auferlegten Leid, in | |
dem Kim nicht ohne Larmoyanz auf sein früheres Schaffen zurückblickt. | |
„Amen“ hieß sein darauf folgender, „Pietà“ nun der aktuelle Film: Kim | |
treibt seine Dämonen mit großzügig vergossenem Weihwasser unter Anrufung | |
höherer Gnaden aus. | |
Nach dem verzärtelt auf Festivalbedürfnisse zugeschnittenen Kunsthandwerk, | |
das Kim nach seiner furiosen ersten Schaffensphase lange Zeit bediente, ist | |
„Pietà“ eine Rückkehr des ruppig-bösartigen Kim Ki-duk, der sein Publikum | |
kaum, noch weniger seine Figuren, am allerwenigsten aber die Tiere vor der | |
Kamera schont. | |
Versessen ist er aber mittlerweile auf eine Form von Meisterschaft, die dem | |
Film – ähnlich wie der leicht wirre Versuch, das Thema als (allerdings | |
reichlich unterkomplexen) Kommentar zur Finanz- und Schuldenkrise | |
anzubieten – schlussendlich nicht gut tut: Seine Poesie der Grausamkeit | |
ruht auf einer Architektur, die vorrangig ihre eigene Virtuosität | |
ausstellt. | |
## Die Cleverness des Strippenziehers | |
Mit jeder Wendung der Geschichte – es gibt einige, erfreulich sind sie nie | |
– tritt offener zutage, dass hier nicht das Trauma einer drastischen | |
Erfahrung Kontur gewinnt, sondern die Volten schlagende Cleverness des | |
Strippenziehers. | |
Am Ende fasst auf dem Asphalt ein roter, schier nicht enden wollender | |
Streifen einer winterfrischen Morgendämmerung die Buße schließlich komplett | |
ins Bild des süßen Schmerzes, perfekt konfektioniert für sich ihrer | |
Empfindsamkeit Selbstvergewisserungswillige. | |
## Aktuell im Kino, Regier: Kim Ki-duk, Südkorea 2012, 104 Min. | |
8 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Thomas Groh | |
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