# taz.de -- Russisches Kino: Tanjuscha ist tot | |
> Postkommunistische Tristesse in der russischen Provinz: Davon handelt der | |
> Film „Stille Seelen" des russischen Regisseurs Alexei Fedortschenko. | |
Bild: Aist und Miron überlegen, wie sie Tanjuscha am besten standesgemäß bes… | |
Ein Mann namens Aist macht gerade Fotografien von Frauen in einer | |
russischen Papierfabrik, als er zum Chef gerufen wird. Der glatzköpfige | |
Miron braucht die Hilfe von Aist. Denn seine Frau Tanja („Tanjuscha“!) ist | |
gestorben, und in der abgelegenen Landschaft nordöstlich von Moskau, in der | |
Alexei Fedortschenkos „Stille Seelen“ spielt, ruft man in so einer | |
Situation kein Bestattungsunternehmen, sondern legt selbst Hand an. | |
Tanja wird gewaschen, in eine Decke eingeschlagen und in ein Auto | |
verfrachtet. Dann holt Aist noch seine Spatzen, denn er weiß, dass die | |
Fahrt, die er mit Miron antritt, eine Weile dauern wird. Und so machen sie | |
sich auf den Weg, mit der „Veretenitsa“ auf der Rückbank des Jeeps. Mit | |
diesem Wort bezeichnen Angehörige der ethnischen Minderheit der Merja eine | |
geliebte Person nach ihrem Tod. Und wenn sie postum noch einmal von deren | |
Vorzügen sprechen (im Fall von Tanjuscha waren das für Miron nicht zuletzt | |
ihre „drei Löcher“), dann gilt ihnen das als „Rauch“. | |
Was es genau mit diesen kulturellen Tatsachen auf sich hat, ob sie | |
stichhaltig sind oder ob es sich hier um eine literarische Mythologie | |
handelt (auf Grundlage einer Novelle eines Aist Sergejew, von dem es | |
außerhalb des Films keine weiteren Spuren zu geben scheint), ist nicht | |
weiter von Belang. | |
Denn „Stille Seelen“ hat mehr als ausreichend poetische Qualitäten, um sich | |
seine Freiheiten nehmen zu können. Und ganz außer Acht wird man nicht | |
lassen dürfen, dass der Regisseur Alexei Fedortschenko das Weltkino mit | |
einem Mockumentary über eine sowjetische Mondlandung (lange vor der | |
amerikanischen) betreten hat. | |
Mit seiner Fabel über zwei Vertreter eines aussterbenden Volkes geht es nun | |
aber ganz offensichtlich um mehr als nur einen Streich der Imagination. | |
„Stille Seelen“ erzählt nämlich auf eine betörende Weise von individuell… | |
und gemeinschaftlichen Geheimnissen, von merkwürdigen Einverständnissen in | |
einer Landschaft, die von postkommunistischer Tristesse (der ja eine | |
verquere Schönheit eignet) und atmosphärischer Verdüsterung geprägt ist. | |
## Nichts dem Zufall überlassen | |
Immer wieder tritt Fedortschenko gemeinsam mit seinem Erzähler Aist | |
gleichsam aus der Geschichte heraus, er blickt dann durch Regenschlieren | |
auf die Figuren, und kommt so allmählich an die zwei, drei archimedischen | |
Punkte von „Stille Seelen“. Sie haben jeweils mit Aist zu tun, der nicht | |
zufällig als zweiter Bestatter für Tanjuscha ausgewählt wurde und der sich | |
durch die Ereignisse an einen früheren Todesfall erinnert fühlt. | |
Fedortschenko wechselt umstandslos die Zeitebenen und schafft so einen | |
dichten filmischen Text, in dem jede historische Entwicklung in der | |
Gleichzeitigkeit elegischer Subjektivität aufgehoben wird. Eine Kathedrale, | |
die nur ungefähr im Nebel auszunehmen ist, deutet an, worin ein weiterer | |
Kontext von „Stille Seelen“ liegen könnte. | |
Hier wird die Bewegung zum Licht, zur Farbe, zur Ikone, wie sie Tarkowskis | |
„Andrej Rubljow“ vollzog (der dafür die pagane Sexualität überwinden | |
musste), umgekehrt. Eine in den Tiefen der Wolga versunkene Schreibmaschine | |
enthält den Schlüssel zu „Stille Seelen“, der sich damit endgültig als | |
wunderbar abgründig erweist. | |
## Filmstart von „Stille Seelen" ist Donnerstag, 15.November 2012. Mit | |
Julia Aug, Igor Sergejew u.a. Russland 2010, 77 Min. | |
14 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Bert Rebhandl | |
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