| # taz.de -- Filmstart „Cloud Atlas“: Ein filmischer Weltentwurf | |
| > In ihrer Verfilmung nehmen Tom Tykwer und die Wachowskis das Buch „Der | |
| > Wolkenatlas“ erst auseinander. Dann setzen sie es neu zusammen. | |
| Bild: Die Zukunft schaut dich an: Das Mädchen Sonmi 451 (Doona-Bae) schaut in … | |
| Wer sich in dicken Romanen zurechtfinden will, braucht ein gutes | |
| Namensgedächtnis. In David Mitchells „Der Wolkenatlas“ aus dem Jahr 2006 | |
| erzählt einer namens Zachary, ein Ewing schreibt ein altertümliches | |
| Tagebuch, ein gewisser Frobisher schreibt Briefe aus Zedelghem. | |
| Ein asiatisches Mädchen namens Sonmi 451 wird in der Zukunft einem Verhör | |
| unterzogen, und dann taucht, wenn einem der Kopf schon schwirrt, eine Frau | |
| Meronym auf, weder verwandt noch assonant verschwägert mit Doderers | |
| „Merowingern“, in denen die vielen Namen tatsächlich noch einen sogenannten | |
| Figurenreichtum ergaben. | |
| Mitchell aber hat größere Ambitionen. „Der Wolkenatlas“ ist eine dieser | |
| Universalfabeln, mit denen wir es zuletzt so häufig zu tun bekommen: | |
| Erzählungen, in denen Privatmythologien zu neuen Bibeln werden, zu Texten, | |
| in denen es irgendwie um alles geht. | |
| Mit Tolkien hat das angefangen, Umberto Eco hat sich zwischendurch darüber | |
| lustig und es dann selbst gemacht, mit Harry Potter wurden die Werdejahre | |
| einer ganzen Generation imaginär formatiert, und inzwischen wimmelt es | |
| geradezu vor Dreiteilern, die auf das Ganze literarischer Weltentwürfe | |
| gehen. | |
| ## Das Schicksal der Menschheit | |
| „Der Wolkenatlas“ ist im Vergleich eine verkappte Sextalogie in einem Band, | |
| mit einer speziellen Binnendramaturgie, die als die eigentliche Attraktion | |
| des Buches gelten kann. Dass Tom Tykwer sich für diesen Stoff interessieren | |
| könnte, überrascht nicht, wenn man sich an „Lola rennt“ erinnert, der ja | |
| eine Art beschleunigtes Erzähllabor war, in dem das gute, alte Schicksal | |
| auseinandergenommen und gar nicht allzu neu wieder zusammengesetzt wurde. | |
| In „Der Wolkenatlas“ geht es um nicht weniger als das Schicksal der | |
| Menschheit, für das diachrone Verschränkungen sich also besonders | |
| aufschlussreich erweisen. | |
| Gemeinsam mit dem amerikanischen Regieduo Lana und Andy Wachowski („The | |
| Matrix“) hat Tykwer nun den „Wolkenatlas“ verfilmt, mit Stars wie Tom | |
| Hanks, Halle Berry, Hugh Grant oder Susan Sarandon, die alle in sechs | |
| Rollen auftauchen, mal deutlich erkennbar, mal bis zur Unkenntlichkeit | |
| maskiert. Das feinsäuberliche Erzählprinzip von David Mitchell hat die | |
| Verfilmung nicht übernommen. | |
| ## Ineinander übergehend | |
| Im Buch sind alle Geschichten um eine zentrale Achse gespiegelt, im Film | |
| sind sie ineinander verschränkt und gehen ständig ineinander über. Das | |
| bedeutet, dass zu Beginn eine Menge Etablierungsarbeit geleistet werden | |
| muss, die erstaunlich gut gelingt, wie insgesamt die Plot-Essenzen des | |
| Romans ganz gut gewahrt erscheinen. | |
| „Cloud Atlas“ wirkt für ein so arbeitsteiliges Werk auch durchaus | |
| einheitlich, und durch den lobenswerten Verzicht auf 3-D haben wir es hier | |
| mit einer visuell ansprechenden Großproduktion zu tun. | |
| Doch wird bei aller technischen Kompetenz umso deutlicher, dass die | |
| Erzählkunst von Mitchell in der Substanz arg dürftig ist. Worum geht es | |
| eigentlich? In der gegenwartsnächsten Episode jagt eine junge Journalistin | |
| an der amerikanischen Westküste dem brisanten Bericht eines | |
| Wissenschaftlers nach, der auf die Probleme eines Nuklearreaktors hinweist | |
| und der Energiewirtschaft ein verheerendes Zeugnis ausstellt. | |
| ## Was sieht sie? | |
| Das sieht in etwa wie ein Politthriller der siebziger Jahre aus, doch wird | |
| dabei nie klar, was genau auf dem Spiel steht. Und so ähnlich verhält es | |
| sich in fast allen Episoden, in denen auf einer langen Seepassage ein | |
| Gentleman von einem designierten Sklaven gerettet wird oder in denen Tom | |
| Hanks Halle Berry auf einen hohen Berg führt, damit sie dort in ein | |
| Hologramm starren kann. | |
| Was sieht sie? Sie sieht (nicht im Detail, aber in der Synthese) ein | |
| überzeitliches Geschick der Menschheit, das vage mit Begriffen wie | |
| Freiheit, Mut, Solidarität zu tun hat und das ständig unter dem Druck | |
| individueller oder systemischer Despotien steht. | |
| Den erzählerischen Fluchtpunkt erreicht „Der Wolkenatlas“ in dem Kapitel | |
| über den Komponisten Robert Frobisher, der bei einem alten Meister in die | |
| Lehre geht und sich von diesem erst (natürlich schmerzhaft) emanzipieren | |
| muss, um sein „Wolkenatlas-Sextett“ zu schreiben, das das innere Sanctum | |
| des Buchs und auch des Films ist. David Mitchell hatte dabei einen Vorteil | |
| – er musste das Stück nur evozieren, aber nicht komponieren. | |
| Es dient ihm als MacGuffin. Im Film aber ist es nun zu hören (die Musik | |
| stammt von Heil/Klimek/Tykwer), und wie sich dieses Stück zu richtiger | |
| Musik verhält (wie ein Derivat), so verhält sich auch mit „Cloud Atlas“ | |
| insgesamt – ein Kunstprodukt ohne Kunst. | |
| „Cloud Atlas“. Regie: Lana Wachowski, Andy Wachowski, Tom Tykwer. Mit Tom | |
| Hanks, Halle Berry u. a. 172 Min., USA/D 2011 | |
| 15 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Bert Rebhandl | |
| ## TAGS | |
| Spielfilm | |
| J. R. R. Tolkien | |
| Japan | |
| Russland | |
| Konsole | |
| Biennale | |
| Kino | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Matrix Resurrections“ im Kino: Rückkehr der roten Pillen | |
| Lana Wachowski setzt mit dem Science-Fiction-Film „Matrix Resurrections“ | |
| die Erfolgsreihe mit Keanu Reeves fort. Alles ist diesmal größer und | |
| lauter. | |
| Tierschutz in Mittelerde: Sadistische Hobbits | |
| Tierquäler gibt es überall, sogar in unseren Fantasiewelten. Peta prangert | |
| nun auch Tierquälerei in einer Verfilmung von Tolkiens „Der Hobbit“ an. | |
| Arte-Doku über japanischen General: Von einem, der den Krieg nicht wollte | |
| Die Doku über den japanischen General Ishiwara Kanji ist sehenswert. Und | |
| das trotz falscher These zum Kriegseintritt der Japaner im Zweiten | |
| Weltkrieg. | |
| Russisches Kino: Tanjuscha ist tot | |
| Postkommunistische Tristesse in der russischen Provinz: Davon handelt der | |
| Film „Stille Seelen" des russischen Regisseurs Alexei Fedortschenko. | |
| Renzension Little Big Planet Karting: Säcke, die auf der Fahrbahn rempeln | |
| Rasen, drängeln, schießen: die niedlichen Sackboy-Figuren aus der | |
| Spielereihe „Little Big Planet“ geben jetzt Gas in ihrem eigenen | |
| Kart-Spiel. | |
| Filmstart Biennale Gewinner „Pietà“: Hang zur Perfektion | |
| Ein Müllleben in der Müllwelt ist süßer Schmerz und Poesie der Grausamkeit. | |
| Regisseur Kim Ki-duk stellt auch bei „Pietà“ die eigene Virtuosität aus. | |
| Filmstart „Fraktus“ von Studio Braun: Nostalgie kennt keine Würde | |
| Das Dadatrio Studio Braun erkundet mit seinem Klamaukfilm „Fraktus – Das | |
| letzte Kapitel der Musikgeschichte“ die Anfänge des Techno. |