# taz.de -- Russischer Film: Seine Waffe ist das Bibelwort | |
> In „Der die Zeichen liest“ geht der Schüler Benjamin auf einen | |
> christlichen Rachefeldzug. Er hat sich russisch-orthodox radikalisiert. | |
Bild: Hauptdarsteller Petr Skvortsov spielt den christlich radikalisierten Sch�… | |
Es war der [1][Tatbestand] der „Verletzung religiöser Gefühle“, der in den | |
vergangenen Jahren das Dasein russischer Künstler, Ausstellungsmacher und | |
Menschenrechtler auf den Kopf gestellt hat. Ausgerechnet auf dem | |
künstlerisch freizügigsten aller postsozialistischen Terrains, wo in den | |
neunziger Jahren sämtliche Transgressions-Register ausgelotet wurden, der | |
neokapitalistische Boom aus der geistigen Orientierungslosigkeit aber auch | |
ein ideologisches Anything Goes machte, kam es zum ultimativen Backlash. | |
Beinahe zehn Jahre vor dem legendären „Punk-Gebet“ von Pussy Riot in der | |
Christ-Erlöser-Kathedrale ereignete sich 2003 erstmals Symptomatisches: Die | |
religionskritische Kunst-Schau „Achtung, Religion“ wurde von orthodoxen | |
Rechtgläubigen, die ihre Gefühle verletzt sahen, gestürmt. Das | |
[2][Verfahren] gegen sie wurde vom Gericht als unrechtmäßig eingestuft; | |
dafür wurden Museumsleitung sowie Ausstellungsmacher wegen „Anstiftung zu | |
religiösem Hass“ verurteilt. Nur zwei Duma-Abgeordnete waren gegen diese | |
Strafanzeige, darunter der später ermordete Sergei Juschenkow. Er hatte | |
warnend von der Geburtsstunde „des totalitären Staates unter der Führung | |
der Orthodoxen Kirche“ gesprochen. | |
Auch in Kirill Serebrennikovs Film „Der die Zeichen liest“ („Uchenik“),… | |
nun in Deutschland in die Kinos kommt, fällt das Wort Totalitarismus im | |
Zusammenhang mit dem russischen Staat. Auch hier geht es um den | |
aberwitzigen Einfluss, den die [3][orthodoxe Kirche] mittlerweile auf alle | |
Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hat, insbesondere auf die Schulen | |
(schön skurril jene Szene, in der die Popen einen Turnsaal weihen). Und | |
auch hier steht ein religiöser Eiferer, Benjamin sein Name, im Mittelpunkt. | |
Am Ende des Films tanzen fast alle nach seiner diskursiven Peitsche – aus | |
unterschiedlichen Motiven schließen sie sich seinem gewaltbejahenden | |
Sittlichkeits-Rachefeldzug an, der sich aus einer einzigen Quelle nährt: | |
der Heiligen Schrift. | |
## Unsittlichkeit, Unglaube | |
[4][Kirill Serebrennikov] hat das Stück „Märtyrer“ des deutschen | |
Theaterautors Marius von Mayenburg, das 2011 an der Berliner Schaubühne | |
Premiere hatte, für den russischen Kontext adaptiert, und das funktioniert | |
trotz grundlegendem Koordinatenwechsel (vom furchtbar liberalen Deutschland | |
ins furchtlos antiliberale Russland) ganz gut. | |
Auch im Film werden sämtliche Bibel-Zitate belegt. Benjamins Sermon wird | |
dadurch allerdings um nichts verständlicher (jede Form des Obskurantismus, | |
so der Regisseur, sei ihm zuwider): Wahllos bedient er sich diverser aus | |
dem Zusammenhang gerissener Hetzreden, gegen Unkeuschheit, Unsittlichkeit, | |
Unglaube. Seine Waffe ist das Wort. Seinen Jünger oder Schüler (russ. | |
Uchenik) schickt er gar auf Tötungsmission. Unterdrückte Homosexualität ist | |
auch im Spiel. | |
Zwar geraten bei Benjamins surrealem Kreuzzug (der musikalisch brachial von | |
Laibachs „God is God“ begleitet wird) fast alle Mitmenschen ins Visier – | |
von der alleinerziehenden Mutter, der er Ehebruch und sexuelle | |
Ausschweifung zur Last legt, über seine Bikini-tragenden Mitschülerinnen, | |
für die er den Schwimmunterricht reformieren lässt, bis hin zu einem Popen, | |
der in Benjamins Augen zu wenig Haltung zeigt und dem ordentlich die | |
Leviten gelesen werden. Doch das eigentliche Ziel der Kampagne ist die | |
(jüdische) Biologielehrerin, die die Chuzpe hat, Benjamins | |
Kreationismuswahn einen satten atheistischen Darwinismus entgegenzuhalten. | |
Die beiden überbieten sich sodann in demonstrativem | |
Klassenzimmer-Exhibitionismus, was inszenatorisch zu den gelungensten | |
Momenten des Films zählt (die Ernsthaftigkeit der Radikalisierungsthematik | |
jedoch endgültig in Richtung Farce kippen lässt). | |
Immer wieder entzieht sich Serebrennikov einer allzu intellektuellen | |
Auseinandersetzung mit den vielen Phänomenen, die in „Uchenik“ | |
untergebracht sind. Das gilt nicht nur für den religiösen Extremismus – | |
dessen konfessionelle christliche Rahmung angesichts der Virulenz | |
islamistischen Terrors so provokativ wie banal ist –, sondern auch für die | |
Misogynie und den Antisemitismus, mit dem die Biolehrerin plötzlich | |
konfrontiert wird. Da bleibt es oft bei Andeutungen. Wohlwollend kann man | |
das auch als zynische Direktabbildung jener schier unfassbaren | |
Diskurs-Verwirrung sehen, die den russischen Alltag fest im Griff hat und | |
interessanterweise da am explizitesten wird, wo es (im | |
Geschichtsunterricht) um die Effizienz der Stalin’schen Politik geht. | |
Serebrennikov erzählt, schockt und unterhält lieber, als dass er | |
analysiert. Das ist in diesem Fall aber nicht schlimm. Denn obwohl | |
„Uchenik“ an die filmische Virtuosität des großen Dramas „Leviathan“ … | |
Andrei Swjaginzew) nicht heranreicht, so berührt der private Dschihad | |
seines jungrussischen Märtyrers einen äußerst wunden Punkt: In „Leviathan�… | |
liegt die Niedertracht Putin-Russlands noch ganz in der Korruptheit des | |
Systems. „Uchenik“ geht einen Schritt weiter. Der Film zeigt eine | |
manipulierbare, zutiefst fundamentalistische, nationalistische | |
Gesellschaft, die vor allem eines ist: hasserfüllt. | |
14 Jan 2017 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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