# taz.de -- Moskauer Gogol Theater in Berlin: Die Poesie und die Politik | |
> Der Regisseur Kirill Serebrennikov hat in Moskau Hausarrest. Aber sein | |
> Theater spielt. Auch in Berlin, mit „Kafka“ und „Machine Müller“. | |
Bild: Aus „Machine Müller“, Konstantin Bogomolov und Tänzerinnen | |
„Ich bin allein in meiner Wohnung“, singt der Countertenor Arthur Vasiliyev | |
schmerzhaft und traurig-schön in Kirill Serebrennikovs Inszenierung | |
„Machine Müller“. Das rühre sie hinter den Kulissen zu Tränen, sagt Anna | |
Shalashowa, langjährige Mitarbeiterin des Regisseurs, der nun schon seit | |
acht Monaten in seiner Moskauer Wohnung unter Hausarrest steht. Als habe er | |
ein Jahr vor seiner Inhaftierung schon voraussehen können, was kommt. Eine | |
Zeit der langen Einsamkeit, in der er mit niemandem außen seinen Anwälten | |
kommunizieren kann. | |
Von der Bühne aus haben die Schauspieler des Gogol Center den Applaus des | |
Publikums im Deutschen Theater in Berlin gefilmt, auch die hochgehaltenen | |
„Free Kirill“-Schilder, um ihm die Bilder über seinen Anwalt zu schicken. | |
„Phantasie & Zensur“ war ein Gespräch am Ostersonntag, dem letzten Tag des | |
Gastspiels des Gogol-Theaters in Berlin, überschrieben. Anna Shalashowa, | |
der junge Schauspieler Alexander Gorchilin, der Choreograf Evgeniy Kulagin | |
und andere erzählen über die Bedeutung, die Serebrennikov, der Abwesende, | |
für sie hat. | |
## Das Publikum bleibt seinem Theater treu | |
Er kenne keinen anderen Künstler und Regisseur, mit dem man so offen reden | |
könne, sagt Gorchilin, der Serebrennikov mit 16 Jahren als | |
Schauspielschüler kennenlernte. Und er nennt ihn den größten Hipster, den | |
Russland hat. Er habe eine Generation von jungen Künstlern ermutigt, | |
sensibel auf die Wirklichkeit zuzugehen, mit Tanz, Film und Musik zu | |
arbeiten, erzählt der Choreograf. „Wir sind jeden Tag glücklich, zu sehen, | |
dass der große Saal mit 600 Leuten und der kleine Saal mit 200 Leuten | |
ausverkauft ist“, sagt Anna Shalashowa. | |
Dank der Besucher, dank der verkauften Eintrittskarten können sie | |
weitermachen, obwohl der staatliche Zuschuss für das Haus mit seinen 200 | |
Mitarbeiter, ein Jahr nachdem Serebrennikov 2012 die Leitung übernommen | |
hatte, empfindlich gekürzt wurde. | |
Das Deutsche Theater in Berlin hatte schon seit zwei Jahren den Plan, das | |
Gogol-Theater in Berlin vorzustellen und Kirill Serebrennikov für eine | |
Inszenierung zu engagieren. Doch durch seinen Hausarrest, begründet mit dem | |
Vorwurf, Fördergelder veruntreut zu haben, veränderten sich die Vorzeichen | |
des Austauschs. Nahe liegt die Vermutung, dass seine Kritik an autoritären | |
Strukturen wie an der neu aufkommenden Stalin-Verehrung und seine offene | |
Homosexualität Gründe für die Kampagnen gegen ihn und sein Theater sind. | |
Seine russischen Inszenierungen auch hier zu zeigen wurde zu einem Akt der | |
Solidarität. | |
Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters, nennt Serebrennikovs Stücke | |
ein „Gegengift“ gegen die Tendenzen der Renationalisierung, der engen | |
Definition des Eigenen und des Fremden. Und während man in den Nachrichten | |
jeden Tag von neuen aus Russland ausgewiesenen Diplomaten erfuhr, schaute | |
man auf diese Stücke, als könnten sie einem Russland erklären, mit | |
politisch aufgeladenen Erwartungen. | |
Aber in „Kafka“ und „Machine Müller“ geht es zunächst um Dichter und … | |
Kosmos ihrer Fantasie. „Kafka“ ist eine mit großer Zärtlichkeit auf die | |
Bühne gebrachte Szenenfolge um Figuren, die sich insgeheim mit der | |
Vergeblichkeit ihres Lebens eingerichtet haben. Sie kämpfen nicht gegen die | |
Autoritäten, die sie in enge Konventionen zu pressen versuchen; aber sie | |
entziehen sich deren Zugriff durch unvernünftige Schräglagen, auf der Bühne | |
oft sehr körperlich übersetzt. | |
## Ständig stört etwas, fehlt etwas | |
Ständig stört etwas, fehlen Seiten aus dem Buch, nach dem gespielt werden | |
soll, steht der Protagonist auf dem Tisch oder kriecht darunter wie ein | |
störrisches Kind. | |
Den Text hörte man in Berlin simultan übersetzt über Kopfhörer; aber viele | |
Zuschauer brauchten diese nicht, viele in Berlin lebende Russen waren | |
gekommen. Die Dialoge und das artistische Spiel werden in der Inszenierung | |
von Filmprojektionen gerahmt, die das Bühnengeschehen in einen | |
expressionistischen Film verwandeln und verkleinern, in die Vergangenheit | |
rücken oder die Skurrilität und das Anekdotenhafte steigern. | |
Aber über und unter all dem passiert noch etwas Weiteres, schwerer zu | |
Greifendes. Einmal, als Kafka in einer Szene in der | |
Unfallversicherungsanstalt, in der er täglich arbeitete, ob seiner | |
literarischen Ambitionen gehänselt und wegen pornografischer Spielkarten | |
ins Verhör genommen wird, zählt eine Leuchtschrift im Hintergrund | |
terroristische Vergehen auf. Kein Wort fällt im Stück darüber, aber es | |
grummelt in seinen Eingeweiden. | |
In „Machine Müller“, vor zwei Jahren inszeniert, geraten die Botschaften | |
der Texte, der Filmbilder und der 20 Tänzer und Tänzerinnen in ihrer | |
körperlichen Präsenz in ein noch größeres Spannungsverhältnis. Sie kommen | |
nackt, nur mit einer Maske im Gesicht, auf die Bühne, unterlaufen den | |
sexualisierten Blick und das Skandalöse der Nacktheit aber durch die | |
Beiläufigkeit ihrer Bewegungen. | |
Filmbilder kesseln das Geschehen ein, sie zeigen Paraden und militärische | |
Ordnung einerseits, Bilder von Demonstrationen und Aufständen andererseits. | |
Die Struktur der Körper auf der Bühne streift diese Ordnungen und | |
Unordnungen zwar, findet oft aber auch zu etwas anderem, einer | |
unhintergehbaren Präsenz und Schönheit, die sich gegen die Überschreibung | |
mit Zeichen sperrt. | |
## Im Schatten des Schweigens | |
„Machine Müller“ arbeitet mit Texten aus Heiner Müllers Drama „Quartett… | |
einem zynischen Spiel von Libertinage und Selbstzerstörung, das die | |
Schauspieler Sati Spivakova und Konstantin Bogomolov bravourös aufführen. | |
Die Marquise Merteuil und der Vicomte Valmont malen sich die Verführung und | |
Zerstörung zweier Frauen aus, überbieten sich dabei an Kälte und | |
Perversion, aber lassen den Schauplatz ihrer eigenen Gefühle im Schatten | |
des Schweigens liegen. | |
Unterbrochen werden sie von Liedern des Countertenors und von Monologen | |
Alexander Gorchilins, die geprägt sind von Verzweiflung, Krankheit, Angst | |
und vor allem einem großen Misstrauen gegen die Werkzeuge der Vernunft und | |
der Aufklärung. Dass gerade ein so junger Schauspieler in den Mahlstrom | |
der Geschichte blickt, gibt Müllers Texten eine Dringlichkeit und | |
emotionale Wucht, die sie nicht oft auf der Bühne erreichen. Derweil sieht | |
man in den Filmbildern Häuser einstürzen und die Rauchwolken von Raketen. | |
Als zöge ein Jahrhundert der Zerstörung vorbei. | |
Es ist eine große ästhetische Freiheit, die sich Serebrennikov in der | |
Komposition von Sprache, Bildern und Tanz nimmt, wenn er ihre Dynamiken | |
ineinandergleiten lässt, Schönheit und Zerstörung im selben Atemzug | |
ausbuchstabierend. | |
Er wolle poetisches Theater machen, nicht politisches, sagt Anna | |
Shalashowa im Podiumsgespräch und das klingt angesichts der Situation | |
auch nach Defensive. Aber, ergänzt Ulrich Khuon, so unverblümt und | |
kraftvoll, wie er mit der Schönheit der Körper erzählt und Schönheit und | |
Freiheit zeigt und fordert, muss das in einer Gesellschaft, in der diese | |
fehlen, zu einem politischen Problem werden, macht es doch den Mangel | |
bewusst. | |
2 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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