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# taz.de -- Kinofilm „Arrhythmia“: Russische Herzrhythmusstörungen
> Die Frau ist weg, das Herz schmerzt – Oleg greift zur Flasche, wieder und
> wieder. In „Arrhythmia“ zeigt Boris Khlebnikov direkten, trockenen
> Realismus.
Bild: Gibt es doch noch ein Happy End für Oleg?
Dass Krankheiten im Film oft Symptome einer angeschlagenen Gesellschaft
anzeigen, ist bekannt. Boris Khlebnikovs neuer Film verhandelt die
„Arrhythmia“: Schwankungen im Zentralorgan des menschlichen Körpers. Dieser
Blick auf die aktuellen russ(länd)ischen Herzrhythmusstörungen mag nicht
nur aufgrund des erhöhten Alkoholkonsums in diesem Film überraschen, der
eher einen Titel wie „Leberzirrhose“ nahelegt.
Denn Oleg, mehr trauriger als komischer Held, ist von Beruf ein zwischen
Sanitäter und Notarzt liegender Feldscher (mit hohem
Verantwortungsbewusstsein, meist richtig liegenden Diagnosen und dennoch
oft gewitzter Medikamentierung), der zwar bei anderen lebensrettende
Maßnahmen einsetzt, sich selbst gegenüber aber weniger an die Gesundheit
als vielmehr an die traurig-erschöpfte Seele denkt. Und so gestaltet er
seine Freizeit hochprozentig und schlürft, wenn kein Wodka zur Hand ist,
zum Trost Rotwein aus dem Tetrapack. Quasi permanent.
Gleich in einer der ersten Szenen, im Landhaus der Eltern seiner Frau,
kippt der noch junge Mann sich derart einen hinter die Binde, dass die
angeheiratete Verwandtschaft mit den Augen rollt, allen voran der
Geburtstag feiernde Schwiegerpapa, der von distinguiert auf nervös und
schließlich verärgert umschaltet. Nur Katja (auch sie Ärztin, aber nicht im
Rettungswagen, sondern in der Notaufnahme, mit Aufstiegspotenzial
ausgestattet also) verteidigt ihr Sweetheart. Als Bohemienne und Sprössling
der Mittelschicht ist sie ziemlich schick, aber eine coole Person, die
ruhig und gelassen bleibt. Zumindest äußerlich. Kurze Zeit später textet
sie ihm lapidar: Wir sollten uns scheiden lassen. Die Morallektion bleibt
aus. Konsequenzen werden dennoch gezogen. Beides gebietet das Gesetz der
Neuen Jungen Frau.
Den daraufhin einsetzenden Herzschmerz seines männlichen Helden seziert
Khlebnikov minutiös. Stammschauspieler Alexander Yatsenko macht das Auf und
Ab des Trennungs- als Wiederannäherungsprozesses, das Rasen im Stillstand
(und umgekehrt) extrem spürbar. Seine Körperpräsenz hat etwas unschuldig
Klobiges, während der Alltag rund um ihn immer brüchiger wird. Katja
verbannt ihn mit Riesenluftmatratze in die Küche der beengten
Zweizimmerwohnung, Oleg wird dennoch nicht müde, mit seinen Kumpels dort
Party zu feiern. Wie in alten Zeiten passen auch im Post-Sowjet-Leben
unendlich viele Menschen zwischen Kühlschrank und Raucherbalkon.
Ein allegorisches Scheidungsdrama im Putin-Reich wie der fast zeitgleich
entstandene (seit einigen Wochen auch in Deutschland zu sehende) „Loveless“
von Andrey Zvyagintsev ist „Arrhythmia“ allerdings gerade nicht. Der
Vergleich liegt nahe. Die persönliche Krise als Ausdruck der sozialen – das
ist in beiden Fällen Kernidee. Dennoch will Khlebnikov, befragt nach dem
ideologischen Aussagegehalt der vielen röchelnden und blutenden Notfälle,
mit denen sich Oleg herumschlägt – und das bravourös und wider alle
Umstände –, von versteckter oder offengelegter Metaphorik nichts wissen.
Sein gemeinsam mit Natalia Meshchaninova verfasstes Drehbuch sieht einen
direkten, trockenen Realismus vor, wie er nur in einer Provinzstadt (im
Film Jaroslawl) zum Ausdruck kommen kann, visuell umgesetzt zudem von einer
die Vibrationen der Rhythmusstörung präzise auffangenden Kamera (Alisher
Khamidkhodzhaev).
Dass in „Arrhythmia“ trotz Verkehrschaos und Krankenhausmissstand,
Vorgesetztenkarrierismus und Bürokratie-Revival doch Happy End gefeiert
wird, ist tröstlich. Kracauer hätte das vielleicht verflucht. Die
(Genre-)Lehre des neuen Russenfilms lautet schlicht: Menschlichkeit. Das
mag nach wenig klingen. Ist aber viel.
18 Apr 2018
## AUTOREN
Barbara Wurm
## TAGS
Kino
Alkohol
Russland
Dokumentarfilm
Schwerpunkt Syrien
Russland
Russland
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