| # taz.de -- Sibirien-Dokumentarfilm „Kolyma“: Horror im Permafrost | |
| > Die politische Ernsthaftigkeit ist beunruhigend: Stanisław Muchas | |
| > Dokumentarfilm „Kolyma“ zeigt ein Sibirien mit Schurken und Opfern. | |
| Bild: Ein Jakute verpasst in „Kolyma“ seinem Vater einen Jungbrunnen mit 11… | |
| Manchen Dokumentarfilmern ist das Glück besonders hold. Man hat dann das | |
| Gefühl, dass sie nur mit Kamera und Mikrofon dastehen müssen, und schon: | |
| drehen Lkws ausladende Pirouetten auf Eis oder schließt ein Jakute seinen | |
| Vater zwecks Verjüngungskur via US-Body-Electric-Methode an einen | |
| selbstgebastelten 110.000-Volt-Stromkreislauf an (Schock!). | |
| Schon schwingen Jungfrauen in bunten Turnkostümen weiß-blau-rote Fähnchen | |
| und singen „Rossija, wir werden siegen! Wir sind deine Kinder!“ | |
| (Ohrwurmgefahr!), schon steigen drei Elftklässler auf dieselbe Bühne (als | |
| „Super-Extremal“, „Super-Brutal“ und „Superheld des Abends“) und | |
| konkurrieren im reichlich absurden Nationalwettbewerb des Federpustens. | |
| Einer lehnt sich bei 50 Grad minus im Shirt aus dem Fenster („Kalt?“ | |
| „Ne!“), eine andere schichtet gefrorene Pferdeköpfe zum Verkauf, und die | |
| Kriegsflüchtlinge aus Donezk landen, ohne vorher informiert zu werden, auch | |
| in dieser Gegend im fernen Osten, die zwar vielleicht für Werbezwecke das | |
| „Goldene Herz“ Russlands sein mag (Schriftzug am Straßenrand), aber im | |
| weltweiten kollektiven Gedächtnis für ein Todesimperium hinter dem „Tor zur | |
| Hölle“ (Magadan) steht. | |
| Kolyma wurde unter Stalin Teil des „Nordöstlichen Besserungsarbeitslagers“ | |
| und hat Sonderstatus innerhalb der ohnehin den menschlichen Ausnahmezustand | |
| markierenden Lagerliteratur, besonders im Werk Warlam Schalamows. Kolyma | |
| heißt der Fluss und auch die 2.000 Kilometer lange Straße, die ins „tiefe | |
| Sibirien“ führt – eine Schotterpiste gebaut von unzähligen Gulag-Häftlin… | |
| und besser als „Straße der Knochen“ bekannt. | |
| Der Dokumentarfilmer mit dem goldenen Händchen, der sie entlangfährt, ist | |
| Stanisław Mucha. Er will sehen und im Gespräch verstehen, wie es sich | |
| (heute) so lebt auf einem Terrain, das den Geschichtshorror im Permafrost | |
| gespeichert hat. Schon seit „Mit Bubi heim ins Reich“ (1999) verfolgt Mucha | |
| unaufgeregt und doch ohne bewusst-analytische Distanz die Spuren der | |
| Vernichtung, die die großen Ideologien quer durch Europa und darüber hinaus | |
| gezogen haben – damals ein NS-Zögling Himmlers; und immer tut er das mit | |
| Blick auf die Jetztzeit, auf die Normalsterblichen (und auf Augenhöhe) | |
| sowie mit einer großen Portion augenzwinkerndem Humor, der mit „Absolut | |
| Warhola“ (2001) zum Markenzeichen wurde. | |
| ## Unendlich viel Skurriles | |
| In den Provinzlandschaften, die er von der „Mitte“ Europas (2004) über die | |
| Schwarzmeerlandschaft („Tristia“, 2014) durchstreift hat, um nun jenseits | |
| des östlichen Endes der Zivilisation anzukommen, da, wo sein polnischer | |
| Großvater für das Kind des Lagervorstehers einst eine Schaukel bauen | |
| musste, lauert nicht nur unendlich viel Skurriles, hier lässt sich auch | |
| gezielt nach der Raum-Mensch-Bindung forschen. | |
| Was „Kolyma – Straße der Knochen“ im Kontext des Mucha’schen | |
| Roadmovie-Œuvre-Trips auszeichnet, sind weniger die auch hier gestreuten, | |
| wahrlich abartigen Kalauer – wenn er die Hotdog-Verkäuferin fragt, ob sie | |
| nicht besser „Hot Gulag“ anbieten sollte, sie aber, offenbar dem Nirwana | |
| der staatlich geförderten Geschichtsvergessenheit zum Opfer gefallen, nur | |
| das Wort „Gulasch“ kennt. Vielmehr gesellt sich – stärker als bisher –… | |
| im positiven Sinn beunruhigende politische Ernsthaftigkeit an die Seite | |
| jener spitzbübisch-frechen Gelassenheit, mit der Mucha seinen Protagonisten | |
| wie gewohnt in perfekt polnischem Russisch entgegentritt. | |
| Da weiß man dann nicht, welchen seiner Helden man eigentlich großartiger, | |
| weil unfassbarer finden soll: den angeblich mehrfachen Mörder mit Käppi, | |
| der – halb immer noch echauffiert, halb schon jenseits von Gut und Böse – | |
| die vielen Mythen des Arbeitslagerlebens geraderückt („Liebe? Ja, die gab | |
| es. Allerdings nur zwischen Lageraufseher und seinen unter die Bettdecke | |
| gesteckten Leibeigenen-Jungs“); oder den 75-jährigen ebenfalls | |
| messeraffinen Ohrabschneider, der nach vierzig Jahren erzwungener Onanie | |
| seinen Anspruch auf Reproduktion verwirklichen will und eine 29-Jährige zur | |
| Frau nimmt (was dem Regisseur ein anerkennendes „Respekt“ entlockt). | |
| ## Massenfriedhöfe freilegen | |
| Die Gespräche mit dem Gulag-Museumsleiter – von Putin ausgezeichnet – | |
| verdichten sich zum Diskursirrsinn der Leugnung des Terrors („Nur 20 | |
| Prozent waren wahrscheinlich wirklich unschuldig“), während ein | |
| Regionsexperte Massenfriedhöfe freilegt, vom Leichensumpf erzählt und von | |
| über Nacht verschwundenen Tonnen Gold und Silber: Verdächtige? – keine | |
| („Das ist halt Russland“), Putin werde aufklären. | |
| Der liebenswerteste Held ist freilich Juri, der anfangs auf die Frage, was | |
| Kolyma für ihn bedeute, „Heimat“ antwortet, „aber das versteht ihr im | |
| Westen nicht“. Am Ende schämt er sich für genau diese Heimat, mit ihren | |
| Tausenden die Trasse formierenden Menschenknochen. Ein Offizier sei er, | |
| sein Sohn „Held“, verteidigt aber habe man ein Riesenreich, das sich | |
| überall einmischen muss, nur selbst keine Ahnung hat, wie Leben gehen | |
| könnte. Ein Film von Schurken und Opfern, ununterscheidbar in diesem | |
| Landstrich. WM-TV aus. Ab ins Kino. | |
| 21 Jun 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Wurm | |
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