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# taz.de -- Kulturaustausch in Nowosibirsk: Sibirischer Garagenblues
> Interesse für Kunst wecken, die lokale Szene stärken: Das Goethe-Institut
> holte die Idee des Berliner Kunstfestivals „48h Neukölln“ nach
> Nowosibirsk.
Bild: Nowosibirsks wohl bekannteste Künstler: in der Garage bei den „Blue No…
Nowosibirsk taz | Von der Gegenwart erzählen, aber wie? Im Jahr 1928 fragte
sich das der Journalist Alexander Lvovich Kurs und gründete eine
Zeitschrift mit dem programmatischen Namen Die Gegenwart. Sie war auf
mannigfaltige Art radikal – visuell wie inhaltlich, mit offenen
Diskussionen und scharfem satirischen Stil – und existierte nur bis 1930.
Die Gegenwart ist ein Stück Nowosibirsker Avantgarde, das in der Bibliothek
verstaubte, bis Pjotr Zherebtsov auf sie aufmerksam wurde. Zherebtsov, um
die 30, ist einer der Hoffnungsträger für Nowosibirsk und für die
zeitgenössische Kunst. Seit anderthalb Jahren ist er Kurator am ZK19,
Nowosibirsks neuem Zentrum für zeitgenössische Kunst und Kultur, das sich
zum Festival „48h Nowosibirsk“ erstmals der Öffentlichkeit präsentierte,
einer Öffentlichkeit, die mit Kunst, zeitgenössischer jedenfalls, bislang
wenig am Hut hatte, weil es kaum Orte gab, welche zu sehen.
Mitte September wurde das Festival veranstaltet, ein Wochenende lang, wie
der Name es nahelegt, der Berliner*innen bekannt vorkommen könnte. Für „48h
Nowosibirsk“ exportierte man Idee und Konzept des bereits 20-jährigen
Stadtteilkunstfestivals „48h Neukölln“ nach Sibirien, als
Gemeinschaftsprojekt des Goethe-Instituts Nowosibirsk, des Kulturnetzwerks
Neukölln e. V. und des ZK19.
## Orange des Sanddorns
Martin Steffens und Thorsten Schlenger gründeten 48h Neukölln damals, um
den Negativschlagzeilen über den Brennpunktbezirk etwas entgegenzusetzen.
Es ist ein Festival von der Szene für die Szene, dezentral, partizipativ,
für alle, die sich gern einmal durch die Straßen der Kieze treiben lassen.
Rasant verändert haben selbige sich seitdem, Neukölln ist eine Blaupause
für Gentrifizierung, in der Kunst hat sich jedoch noch ein wenig der
charmanten Rauheit konserviert.
In Nowosibirsk ist Gentrifizierung kein Thema. Viele Reiseführer raten ab,
in der drittgrößten Stadt Russlands überhaupt Station zu machen.
Sehenswürdigkeiten hat sie kaum zu bieten.
Die Gegenwart Nowosibirsks im Herbst 2019 leuchtet im Orange des Sanddorns,
den Babuschkas auf der Straße verkaufen, und im Rot der Vogelbeeren, die an
den Bäumen vor Plattenbauten und zaristischen Holzhäusern,
konstruktivistischen Gebäuden und heroischen Monumenten reifen. Immer zu
den Kommunalwahlen würden die Gehwege gerichtet, heißt es. Die waren vor
ein paar Wochen erst, also tappst man von Baustelle zu Baustelle. So
heterogen wie die Architektur, so zerklüftet wie die Straßen ist auch die
Kunstszene.
Als fragmentierter als in anderen Großstädten beschreibt sie Zherebtsov. Da
gibt es die Alten, die in der russischen Künstlerunion organisiert sind und
noch Privilegien des Sowjeterbes genießen, günstige Ateliers auf Lebenszeit
und Ausstellungsmöglichkeiten im GZII, wie das ZK19 früher hieß, auf der
anderen Seite die Jungen, die ihre Studios teuer anmieten müssen, die um
Sichtbarkeit kämpfen und dann vielleicht doch wegziehen. Das ZK19 will die
Strukturen reformieren, Kunst kuratieren, nicht nur präsentieren, ein
mühseliger Prozess, doch jetzt scheint der richtige Zeitpunkt zu sein.
## Tattoos von Gefangenen
Auch Per Brandt, Leiter des Nowosibirsker Goethe-Instituts, möchte nicht
nur mit dem Festival einmalig, sondern auch mit kontinuierlichem Programm
die lokale Kunstszene stärken. Es ist noch ein weiter Weg, auch zwischen
den Orten des Festivals. Über die ganze Innenstadt breiteten sie sich aus.
Manche von ihnen öffneten am Kunstwochenende erstmals die Türen. Wie auch
das ZK19. In der Hauptausstellung, kuratiert von Zherebtsov und Steffens,
trafen dort Neuköllner und Nowosibirsker Positionen aufeinander.
Claudia von Funckes Videoinstallationen, die abstrahierte Bilder und Sounds
aus einerseits Berlin, andererseits Novosibirsk ineinander montiert,
treffen etwa auf Mayana Nasybullovas Gipsabformungen von Gullydeckeln.
Nasybullova, Jahrgang 1989, Postergirl der jungen Kunst der Stadt, hatte
zum Festival zudem in der Post Galerie, einem neuen Kunstort, wo früher der
Staatssicherheitsdienst saß, eine Einzelausstellung, für die sie
Tätowierungen russischer Gefängnisinsassen nachstickte.
Mutige, kontroverse Arbeiten, die im Rahmen des Festivals und ein wenig
geschützt durch die Beteiligung des Goethe-Instituts einfacher zu zeigen
waren. Nasybullova hat gerade einige Monate in Moskau verbracht. Dort hätte
sie es als Künstlerin leichter, sagt sie, in Nowosibirsk aber lebten die
besseren Menschen.
## Nacktheit als Tabu
Von ihrer Kunst leben kann auch Olga Posukh nicht, muss sie auch gar nicht.
Tagsüber forscht sie an Genomen, in ihrer Freizeit illustriert sie,
zeichnet und stellt Siebdrucke her. Mit ihrem Kollektiv Zoskaprint hat sie
für „48h Nowosibirsk“ eine Ausstellung unter dem Titel „Dirty Women“
zusammengestellt. Jede der Arbeiten wurde oder würde in anderen Galerien
zensiert, weil sie Nacktheit zeigten oder Tabuthemen wie Menstruation,
Prostitution oder sexuellen Missbrauch ansprächen. Harmlos für westliche
Augen, zu viel für ein paar Einheimische.
Am zweiten Tag bekamen Posukh und ihre Kolleginnen Besuch von gewalttätig
wirkenden Männern. Zu Übergriffen kam es nicht, dennoch engagierten die
Künstlerinnen einen Sicherheitsdienst. „Ich kann mir gut vorstellen, dass
es ein Nachspiel geben wird, vielleicht werden sie uns anzeigen“, so
Posukh.
Die beiden einzigen Künstler aus Nowosbirisk, die man hierzulande kennen
könnte, kennen sich mit Provokationen aus. Die Blue Noses brachten in den
vergangenen zwanzig Jahren Sibirien auf den Radar der Kunstwelt, waren
unter anderem zweimal auf der Biennale in Venedig zu sehen.
Für das Festival richteten sie ein kleines Museum ihrer Kunst ein. Da steht
Slava Mizin, die eine Hälfte der verbliebenen Aktionisten, füllt Wodka in
Plastikbecher, an den Wänden um ihn herum gesammelte Werke der Blue Noses:
die Künstler als Bauern verkleidet, mit falschen Bärten und Äxten,
posierende Bodybuilder neben einem Leninporträt, Suprematismus aus
Wurstscheiben. „Bleibt hier, geht nicht in die Garage, die ist eh schwer zu
finden“, rät er.
## Eine russische Spezialität
Garagen sind eine Nowosibirsker, eine russische Spezialität. In den 90ern,
als es gefährlich war, sein Auto auf der Straße zu lassen, seien sie in
Massen gebaut worden, erzählt Alexey Grishchenko neben der seines Vaters
lehnend. Autos stehen hier nicht viele, Garagen entwickelten sich zu
Paralleluniversen, wo die einen mit Freunden abhängen oder halblegalen
Geschäften nachgehen und wo einer wie Grishchenko seit drei Jahren
monatliche Ausstellungen organisiert, bei denen jede und jeder mitmachen
kann. In Grishchenkos Garage fühlt sich die Kunst leicht an, spielerisch.
Wenn etwas herunterfällt, hängt es der oder die Nächste einfach wieder auf.
Sowieso scheint die Lust auf Kunst bei vielen jungen Nowosibirskern größer
als die Furcht davor zu sein. Wo sonst hört man Leute öffentlich und
ungeniert fragen, wie sie zeitgenössische Kunst verstehen lernen können?
25 Sep 2019
## AUTOREN
Beate Scheder
## TAGS
Sibirien
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