| # taz.de -- Familiendrama „Loveless“: Aus der Welt verschwinden | |
| > In Andrei Swjaginzews Film trennt sich ein Paar, der Sohn geht unter. Das | |
| > Drama zeigt das heutige Russland perfekt ausgeleuchtet in Dauerdämmerung. | |
| Bild: Aljoscha entschließt sich, aus der Welt zu verschwinden | |
| „Loveless“ wurde Andrei Swjaginzews neuer Film für seine Premiere in Cannes | |
| im Vorjahr getauft. Er gewann dort auch den Preis der Jury – und war nun | |
| 2018 sogar bei den Golden Globe Awards und für den Oscar als bester | |
| fremdsprachiger Film nominiert. Mit der kulturellen Übersetzung aus einem | |
| einheimischen in einen globalen Kontext schlagen sich alle Filme des | |
| internationalen Circuit herum. Für das Kino Swjaginzews ist der | |
| Rezeptionshintergrund jedoch absolut entscheidend. | |
| Hier geht es nämlich nicht nur um die Frage, wie „realistisch“ die | |
| dargestellte Welt erscheint (was bekanntlich oft nur Menschen zu wissen | |
| meinen, die „dort auch leben“). Hier geht es vielmehr um die Bereitschaft, | |
| den Fährten der filmisch angelegten sozialen und vor allem politischen | |
| Interpretation zu folgen. Folgen zu können, folgen zu wollen. Und das ist | |
| bei einem Film, in dessen letzten Einstellungen ein Mann, genervt | |
| vielleicht von der Berichterstattung zum Ukraine-Krieg, die Fernsehcouch | |
| verlässt und eine Frau im weiß-blau-roten RUSSIA-Trainingsanzug läuft, | |
| allerdings hinter Glas und auf einem Laufband – im Stillstand bewegt – | |
| ziemlich zentral. | |
| Im russischen Original heißt der aktuelle Nachfolger von „Leviathan“, | |
| Swjaginzews gefeierter und kräftig in die Eingeweide des politischen | |
| Bewusstseins schlagenden Gesellschafts-Parabel aus dem Jahr 2014, nicht | |
| „Lieblos“ oder „Ohne Liebe“, nicht „Loveless“ eben, sondern „Nely… | |
| Nichtliebe. Eine Welt ohne Liebe ist etwas, das einem zustoßen kann. Für | |
| die Nicht-Liebe ist man selbst verantwortlich. Zumindest schwingt der Hauch | |
| des Selbstgewählten mit. Wir haben uns Hass und Zwietracht auch selbst | |
| zuzuschreiben, scheint dieser im Gegensatz zu „Leviathan“ zwar nur leicht, | |
| aber doch verstörende Film zu sagen, in dem zwei Menschen voneinander | |
| scheiden und die Welt eines Dritten untergeht – ihres gemeinsamen Kindes. | |
| Damit aber ist eben nicht mehr nur „das System“ an allem schuld, wie auch | |
| immer man es benennen mag und wo immer man es verortet: im kühlen Neo-Chic | |
| der seidenen Bettwäsche und der durchdesignten Loft-Landschaften („der | |
| Kapitalismus“), im kalten Vollautomatismus der Smartphone- und | |
| LED-Bildschirm-Kulissen („die Technik“) oder eben im frostigen Russland | |
| zwischen 2012 und 2014 („die Politik“), wo Entscheidendes in Sachen Hass | |
| und Zwietracht passierte – die Niederschlagung nämlich der gegen den | |
| Putin-Autoritarismus aufbegehrenden Bevölkerung am Bolotnaja-Platz in | |
| Moskau einerseits und der Krieg im Nachbarstaat andererseits. | |
| ## Der Sohn verschwindet | |
| Die beiden Daten waren nicht nur einschneidend für Russland, den | |
| postsowjetischen Raum und die gesamte politische Welt heute, was Swjaginzew | |
| in Interviews wiederholt bestätigt (während er sich freilich davon | |
| distanziert, regimegegnerische Filme machen zu wollen). Sie markieren auch | |
| die beiden Handlungsebenen von „Loveless“. 2012 entschließt sich Aljoscha | |
| offenbar, aus einer Welt zu verschwinden, in der seine sich trennenden | |
| Eltern die Wohnung verkaufen und ihr Glück mit neuen Partnern suchen, wobei | |
| er nur noch im Weg ist (seinen Schmerz inszeniert Swjaginzew so präzise | |
| und eindringlich, dass es wehtut). | |
| 2014 suchen ihn Schenja (herb-unterkühlt: Marjana Spiwak) und Boris | |
| (eingeschüchtert-männlich: Alexei Rosin) letztlich immer noch, nun getrennt | |
| lebend zwar, vereint jedoch durch die TV-Nachrichtenlawinen über die | |
| Ukraine in Trümmern. Denn ob es sich bei dem Kindeskörper, den sie im | |
| Anschluss an ihre nervenaufreibenden Suchaktionen gemeinsam im Leichenhaus | |
| begutachtet haben – der letzte Kraftakt einer kaputtgegangenen Ehe –, um | |
| ihren Sohn handelt oder nicht, bleibt dem Zuschauer überlassen. Sie | |
| schreien Nein, er ist es nicht. Aber das könnte auch nur eine | |
| Abwehrreaktion sein, sagt der psychologisch geschulte Einsatzleiter des | |
| Freiwilligen-Suchtrupps. | |
| Klug fädelt Swjaginzew immer wieder neue Details in diese postmoderne | |
| Variante von Bergmanns „Szenen einer Ehe“ ein: familiäre Hintergründe, | |
| soziale Nuancierungen (besonders bei der Neupartnerwahl), seelische | |
| Zustände, sprachlich-intonatorisch so feingeschliffen verpackt. | |
| Minimalistisch angehaucht und doch bohrend intensiv auch die Musik (Jewgeni | |
| und Sascha Galperin). Ein weiteres ästhetisches Surplus – die | |
| Präzisionsarbeit von Kameramann Michail Kritschmann: perfekt ausgeleuchtete | |
| Mikrokosmen, die die durchdringende Dauerdämmerung dieses Dramas letztlich | |
| erst erzeugen. | |
| Eine emotionale Kulmination wie in „Leviathan“ bleibt in „Loveless“ aus. | |
| Ganz bewusst wohl. Denn „das System“ – die Justiz, die Kirche, die Politi… | |
| all das also, was im Riesenreich, das kurz vor der nächsten | |
| Präsidentschaftszementierung steht, ohnehin nur noch den Charakter einer | |
| Farce hat – ist als Empfänger persönlicher Entladungsversuche unbrauchbar | |
| geworden. Mit der Krankheit der Gesellschaft muss jeder für sich und | |
| einzeln klarkommen. Und das ist bitter. | |
| 15 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Wurm | |
| ## TAGS | |
| Russland | |
| Scheidung | |
| Ukraine | |
| Spielfilm | |
| Dokumentarfilm | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Spielfilm über den Zweiten Weltkrieg: Erlösung gibt es nicht | |
| Elem Klimows Spielfilm „Komm und sieh“ kommt nach 35 Jahren erneut ins | |
| Kino. Er thematisiert die Verbrechen der Wehrmacht in Belarus. | |
| Sibirien-Dokumentarfilm „Kolyma“: Horror im Permafrost | |
| Die politische Ernsthaftigkeit ist beunruhigend: Stanisław Muchas | |
| Dokumentarfilm „Kolyma“ zeigt ein Sibirien mit Schurken und Opfern. | |
| Kolumne Cannes Cannes: Keine Gemeinschaft in der Not | |
| Palmen helfen gegen Terror und entschleunigen den Fußgängerverkehr. Andrei | |
| Swjaginzew widmet sich der Vereinzelung. |