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# taz.de -- Gefängnisroman aus der Sowjetunion: Die gebrochenen Männer von Ze…
> Georgi Demidow überlebte den Gulag in Sibirien und glaubte an die
> aufklärerische Kraft der Literatur. Nun wird er endlich ins Deutsche
> übersetzt.
Bild: Schuhe von Strafgefangenen bei Kolyma. Hier war Georgi Demidow 14 Jahre l…
Von diesem Autor hat in Deutschland bislang so gut wie niemand etwas
gehört. Wie auch? Er wird zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Eine
Entdeckung. Der Roman liest sich wie eine Flaschenpost, die bei
klarsichtigem Verstand in äußerster Not in den Strudel der Zeiten geworfen
wurde und nun endlich, nach einem halben Jahrhundert, von den
Übersetzer*innen Irina Rastorgueva und Thomas Martin sowie dem Galiani
Verlag aufgefischt worden ist.
Georgi Demidow lebte von 1908 bis 1987. Er war ein wichtiger sowjetischer
Physiker. 1938 wurde er denunziert und wegen konterrevolutionärer
Propaganda zu Lagerhaft verurteilt wie so viele. Vierzehn Jahre lang war er
in Sibirien inhaftiert, in dem berüchtigten Gulag an der Kolyma, wo er den
[1][Schriftsteller Warlam Schalamow] kennenlernte, mit dem er litt,
diskutierte und stritt und der ihn in seinen weltberühmten „Erzählungen aus
Kolyma“ zum Vorbild einiger Figuren machte.
Wie Schalamow überlebte auch Demidow, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Er
begann zu schreiben, mit der Schreibmaschine, weil, wie Irina Rastorgueva
im Nachwort des nun erschienenen Buches erklärt, im Gulag seine Finger
erfroren waren, so dass er keinen Stift mehr halten konnte.
Doch das sowjetische Regime schlug noch einmal zu. Am 20. August 1980 kam
das KGB und beschlagnahmte alle Manuskripte von Georgi Demidow sowie auch
seine drei Schreibmaschinen – einer derjenigen Aspekte dieses Schicksals,
die real sind, aber selbst literarisch klingen. Demidow, jetzt gebrochen,
hörte mit dem Schreiben auf. Er starb in dem Bewusstsein, dass sein
Lebenswerk vernichtet sei.
Doch es ist nicht vernichtet. Nach der Perestroika fanden sich die
Manuskripte wieder. 2016 gab es in Moskau eine Tagung zu Schalamow und
Demidow. Und nun werden seine Schriften ins Deutsche übersetzt.
## Die nächtliche Arbeit des NKWD
„Fone Kwas oder Der Idiot“ heißt der erste, soeben erschienene Roman. Er
beginnt mit einer Verhaftungsszene. Die Hauptfigur Rafail Belokrinitskij,
ein Chefingenieur, der ganz bestimmt viele Züge seines Autors trägt, wird
von den [2][Häschern des NKWD] in seiner eigenen Wohnung festgenommen: „Er
hatte schon erkannt, dass es sich um diejenigen handelte, deren nächtliche
Arbeit sich am Morgen durch leere Arbeitsplätze, verschlossene Büros und
das verängstigte Flüstern von Kollegen offenbarte, die sich mit äußerster
Vorsicht ‚Abgeholt …‘ ins Ohr flüsterten.“
„Alles wird sich sehr bald aufklären, und du wirst freigelassen. Das NKWD
irrt sich nie, das weißt du“, sagt Lena, seine Frau. Das ist erkennbar
naiv, und kurz fragt man sich, ob dieses Buch etwa in seinem
Geschlechterbild nicht überholt sein könnte. Doch das ist eine falsche
Spur. Was Lena, die geliebte Ehefrau, hier artikuliert, ist vielmehr die
Stimme des Glaubens an die Vernunft – die sich allerdings als vollkommen
untauglich erweisen wird, das zu begreifen, was Rafail Belokrinitskij in
seiner Haft erleiden wird. Mit Vernunft hat das, was ihm geschieht, rein
gar nichts zu tun.
Rafail Belokrinitskij kommt ins Untersuchungsgefängnis. Die Architektur des
Gebäudes, die Gänge und Treppen, die so angeordnet sind, dass sich nie zwei
Gefangene auf ihnen begegnen, die Schränke, in denen die Gefangenen erst
einmal gesperrt werden, schließlich die Enge der Zelle, in die so viele
Menschen hineingestopft werden, dass sie Körper an Körper sitzen und sich
nachts nur gleichzeitig umdrehen können, das alles beschreibt Georgi
Demidow genau, und zwar wie mit einem wissenschaftlichen Blick.
Der Titel „Fone Kwas“ wird auf Seite 29 erklärt. Die Wendung stammt aus dem
Jiddischen und bezeichnet einen Einfaltspinsel. Rafail Belokrinitskij lernt
in dieser Zelle 22 die Gesetze der Haft kennen. Neuankömmlinge müssen erst
einmal direkt neben dem Kübel für die Exkremente hocken, erst allmählich
kann man sich bis zum besten Platz am – allerdings mit einer Stahlplatte
verbarrikadierten – Fenster hochleiden. Alle Insassen sind unschuldig,
einzig Opfer von Stalins „Konzept des Generalverdachts“: „Die Frage, ob
eine vom NKWD verhaftete Person schuldig oder unschuldig ist, wird nicht
einmal gestellt.“
## Lesen mit angehaltenem Atem
Die einzige Chance, aus dem Untersuchungsgefängnis herauszukommen, besteht
darin, ein Geständnis abzulegen, auch wenn man unschuldig ist. Das geht so
weit, dass die Gefangenen nicht nur ihre Taten erfinden und wahllos
Mittäter denunzieren, sondern sich etwa sogar politische Programme für
fiktive Untergrund-Organisationen im Kaukasus ausdenken, um sich als ihre
Anführer auszugeben.
Rafail Belokrinitskij beschließt, sich mit Sabotageakten des Energiesektors
zu bezichtigen, die physikalisch unmöglich sind, um eventuell später das
Gelogene daran aufzeigen zu können – doch mit dieser ausgeklügelten Taktik
wird er scheitern. Auch solche Aspekte wie physikalische Wahrscheinlichkeit
sind dem repressiven Regime letztlich vollkommen wurscht. Dadurch, dass er
sich noch an eine Restvernunft im System klammerte, erweist er sich
endgültig als „Fone Kwas“.
So schrecklich das alles auch ist, man liest diesen Roman mit angehaltenem
Atem und, so erschrickt man beim Lesen immer wieder, fast zu gern. Das
liegt zum einen an der klaren Sprache. Die Leiden der Gefangenen will
Georgi Demidow gar nicht expressiv ausmalen, er will sie sachlich
darstellen und das System dahinter verstehen. Zum anderen liegt das aber
auch an den Umständen der Publikation. Allein schon dadurch, dass man
diesen Roman lesen kann, meint man ein Unrecht zumindest posthum
wiedergutmachen zu können – das der Beschlagnahme und versuchten Zensur
dieser Texte, die letztlich dann eben doch nicht erfolgreich gewesen ist.
In dieses leise gute Gefühl mischt sich zugleich aber ein Moment von
Hilflosigkeit. Zeugnis ablegen, Macht analysieren, auch in schlimmen
Verhältnissen einen klaren Kopf behalten – es nützt, denkt man zwischendrin
beim Lesen, alles nichts. Weder konnte die klare Darstellung des
sowjetischen Unrechtsstaates in diesem Roman die Willkür des Regimes
beenden, noch kann die Publikation des Romans jetzt im gegenwärtigen
Putin-Russland irgend etwas ausrichten. Noch nicht einmal kratzen kann die
Literatur von sich aus am stählernen Gehäuse der Macht.
Niederschmetternd deutlich verweist die Lektüre so auf die beschränkte
Rolle, die Romane, und seien sie noch so hellsichtig, in einem
diktatorischen Regime ausfüllen. Sie können nur darstellen. Wirklich an den
Verhältnissen etwas ändern kann nur eine lebendige und selbstbewusste
Zivilgesellschaft, die es in Russland, muss man leider konzedieren, damals
nicht gab und [3][auch heute nicht gibt.]
## „Mut“, „Ehre“ – das verliert jeden Sinn
Was allerdings wiederum auch nichts daran ändert, dass in Georgi Demidow
ein hochinteressanter Autor zu entdecken ist. „Fone Kwas“ ist ein
tiefschwarzer Roman, und dieser Rafail Belokrinitskij ist alles andere als
ein Held; im Verhör erweist er sich als so menschlich-feige, wie man auch
selbst sein würde. Konzepte wie „Mut“, „Ehre“ oder auch nur „Durchha…
verlieren in dieser Haft sowieso ihren Sinn.
Alle Gefangenen, ob sie nun alles durchschauen, wie der Staatsanwalt, der
Hunderte Blankohaftbefehle ausstellte, dann selbst denunziert wurde und
vielleicht sogar seinen eigenen Haftbefehl unterschrieb, ob sie wie der
revolutionäre Veteran vom Panzerkreuzer Potemkin noch mit gebrochenen
Knochen an Solidarität appellieren – sie alle brechen irgendwann. „Es
beginnt wie ein Film noir, und dann wird es wirklich schwarz“, schreibt
Thomas Martin in seinem Nachwort. Das stimmt.
Dem Galiani-Verlag ist für diese Publikation sehr zu danken. Man sieht sie
beim Lesen, diese gedemütigten Männer, die eng aneinander gepresst, neben
dem Scheißekübel kauernd, in der sauerstoffarmen Luft der Zelle 22 nach
Luft schnappend noch einen letzten Rest ihrer Würde bewahren wollen. Und
die sich dann doch „zu unfreiwilligen und gegenseitigen Peinigern“ werden
und sich in der engen Zelle gegenseitig zu hassen beginnen, während ihnen
selbst der Gulag zu einem „gelobten Land“ wird; immerhin kann man im
Arbeitslager frische Luft atmen.
Man sieht auch diesen Georgi Demidow, der sich mit seinen erfrorenen
Fingern an seine Schreibmaschinen setzte, solange er sie noch hatte, um ihr
ins Gesicht zu sehen, der, wie es an einer Stelle heißt, Amok laufenden
„Maschine der Gesetzlosigkeit und Willkür“. Man stellt ihn sich als
menschenfreundlichen Autor vor, der trotz allem, was er erlebte, an die
Kraft der Literatur glaubte, solange es ging. Es ist, auch wenn sie sich
nicht durchsetzen können, gut zu wissen, dass es solche Autoren gegeben hat
und gibt.
15 Nov 2023
## LINKS
[1] /Russischer-Dissident-Warlam-Schalamow/!5917259
[2] /Besuch-im-KGB-Museum-in-Riga/!5939558
[3] /Menschenrechte-in-Russland/!5911563
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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