# taz.de -- Dokumentartheater über die Sowjetzeit: Der Apparat arbeitet weiter | |
> Die russische Theatergruppe KnAM lebt im Exil. Mit „My Little Antarctica“ | |
> erzählte sie beim Berliner Festival FIND vom Leben in Straflagern. | |
Bild: Wer hat die Stadt gebaut? Szene aus „My Little Antarctica“ | |
„Ich bin jetzt 23 Jahre alt und ich weiß, dass sich niemals etwas ändern | |
wird“, sagt die junge Frau auf dem Bildschirm. „Ich möchte weiter daran | |
glauben, dass Komsomolzen die Stadt erbaut haben,“ erklärt eine ältere | |
Frau. Beide leben in Komsomolsk am Amur, einer Stadt im äußersten Osten | |
Russlands. | |
Die Legende ist so alt wie die Stadt selbst und geht so: Anfang der 1930er | |
kommen Mitglieder des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol an den Fluss | |
Amur und stampfen eine neue Stadt aus dem Boden. 90 Prozent aller Häuser | |
aber wurde von Gulag-Häftlingen errichtet. Bis in die 1950er Jahre gab es | |
im Stadtgebiet 40 Arbeitslager. 1985 wurde in dieser Stadt das erste | |
unabhängige Theater in der UdSSR gegründet, das KnAM (Abkürzung für | |
Komsomolsk am Amur). | |
Bis 2022 haben Gründerin Tatjana Frolova und ihre Truppe vor Ort | |
Dokumentar-Theater gemacht, in dessen Rahmen sie sich mit der Geschichte | |
ihrer Heimatstadt auseinandergesetzt haben. Da sich das Theater von Anfang | |
an gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine positioniert hatte, | |
blieb ihnen nur die Flucht, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. | |
Inzwischen führt Frolova ihr Theater im französischen Exil weiter. | |
Die Berliner Schaubühne hat KnAMs „My Little Antarctica“ zum | |
[1][FIND-Festival] eingeladen. Vor dem Hintergrund des andauernden Krieges | |
gegen die Ukraine hat das KnAM die Inszenierung, die ihre Premiere 2019 | |
feierte, aktualisiert. So werden Bilder [2][des zerstörten Theaters in | |
Mariupol] mit einem Auftritt Putins im prunkvollen Theater von Jaroslawl an | |
der Wolga gegengeschnitten. | |
## Überleben im Stalinismus | |
„My Little Antarctica“ bezieht sich auf den achtmonatigen harten Winter in | |
Komsomolsk am Amur und beschreibt die Bedingungen, unter denen die | |
Gulag-Häftlinge bei Temperaturen bis minus 45 Grad ihr Leben verloren. Das | |
Stück thematisiert aber auch die vorherrschende Gefühlskälte in dieser | |
Zeit, denn nur so war ein Überleben im Stalinismus möglich. | |
Auch im gegenwärtigen Russland ist Abstumpfung eine weit verbreitete | |
„Überlebensstrategie“, geht aus den eingeblendeten Interviews hervor. Ein | |
junger Mann aber bekennt, dass er sich dagegen immunisieren möchte, nur er | |
weiß nicht, wie. | |
Und dann kommt der Satz: „Wir wissen viel über die Opfer des Stalinismus, | |
aber wenig über die Täter.“ Anhand von Täter-Akten werden zwei | |
NKWD-MitarbeiterInnen vorgestellt. So war Jekaterina Michailowna Noskova | |
(1903–1989) als Henkerin bei der sowjetischen Geheimpolizei angestellt. | |
Fotos aus ihrer Akte zeigen sie bei einem Ferienaufenthalt in einem | |
NKWD-Sanatorium, das heute vom russischen Geheimdienst FSB genutzt wird. | |
261-mal hat Noskova gemordet, geht aus den Dokumenten hervor. In einem | |
fiktiven Interview gibt man ihr das Geheimpolizei-typische | |
Rechtfertigungsmuster an die Hand: In der Befehlshierarchie sei sie „nur“ | |
Ausführende gewesen und musste, um den Staat zu schützen, Volksfeinde | |
eliminieren. | |
Bemerkenswert ist, dass in der Inszenierung, die mit sparsamen szenischen | |
Mitteln arbeitet, die Schuldzuweisung an Stalin ausbleibt. Denn „der | |
Apparat arbeitet auch von allein“. Während seines kurzen Auftritts lässt | |
man Stalin Sentenzen verbreiten, die die politische Situation im heutigen | |
Russland auf den Punkt bringen: Das Regime ist der Spiegel des Volkes und | |
rät daher der Bevölkerung, endlich „für sich selbst zu denken. Das ist das | |
Einzige, was euch helfen kann.“ | |
Russ:Innen ist die Bedeutung des Wortes „denken“ abhanden gekommen, | |
findet KnAM, und lässt daher seine Protagonist:Innen erst mal bei | |
Google nachschauen, was der Bühnen-Stalin mit diesem Begriff eigentlich | |
meint. | |
26 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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