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# taz.de -- Russischer Dissident Warlam Schalamow: Kontakt mit der Vergangenheit
> Schriftsteller Warlam Schalamow überlebte den sowjetischen Gulag. Seine
> Briefe sowie seine Biografie geben Einblicke in eine Poetik des
> Schreckens.
Bild: Sowjetisches Polizeifoto des Autors Warlam Schalamow (1907 – 1982)
Sechzehn Jahre hat Warlam Schalamow im Gulag verbracht, vierzehn davon an
der Kolyma, einem Fluss im äußersten Osten Russlands, nahe dem Kältepol der
Erde. Zu Beginn seiner Haftzeit, Ende der 1930er Jahre, mussten die
Häftlinge dort im Sommer vierzehn Stunden sieben Tage die Woche schwere
körperliche Arbeit verrichten; im Winter waren es weniger, aber die
Temperaturen fielen bis unter minus 50 Grad.
„Ich habe keine Stelle am Körper, die nicht drei- und viermal erfroren
ist“, schreibt der russische Autor 1965 an einen Mithäftling, der wie er
nur durch einen Zufall überlebt hatte. Millionen anderer dagegen starben an
Hunger, Erschöpfung oder Krankheiten in den Holzbetrieben, beim Aufbau der
Eisenbahnlinien, der Industriekombinate und Bergwerke Sibiriens.
Alle Häftlinge, die aus dem Gulag zurückkehrten, wurden zum Schweigen
verpflichten. Aber schon aus Selbstschutz haben viele nicht mehr über ihre
Erlebnisse gesprochen. Sie wollten den Schrecken in der Erzählung nicht
noch einmal durchleben. Und denen, die trotz des Verbots über ihre
Erfahrungen sprachen, hörte bald niemand mehr zu.
Warlam Schalamow hielt das Schweigen für falsch. „Ich habe, als ich im
Norden war“, schreibt er 1955 an einen ehemaligen Mithäftling, „Menschen
immer energisch verurteilt, die nach ihrer Abreise nicht schrieben und so
versuchten, die Verbindung zur Vergangenheit, zum Schrecklichen, in den
kleinen Dingen zu kappen und nicht begriffen, dass der Mensch an diese
Vergangenheit auf Leben und Tod gebunden ist.“
## Kontinuität des Stalinismus
Er sollte recht behalten. [1][Die Wiederkehr des verdrängten Stalinismus in
Putins heutigem Russland] ist unübersehbar.
Franziska Thun-Hohenstein, die die deutsche Werkausgabe Schalamows
herausgibt, hat nun eine Auswahl seiner Briefe vorgelegt. Gabriele Leupold
hat sie, wie schon alle anderen Texte der Ausgabe, in gewohnter Qualität
ins Deutsche übersetzt. Es sind Briefe, die nicht nur aus biografischen
Gründen interessant sind, sondern vor allem, weil sich Schalamow hier
ausführlich über seine Poetik äußert.
Thun-Hohensteins lesenswerte Biografie „Warlam Schalamow. Biographie und
Poetik“, die gleichzeitig mit den Briefen erschienen ist, greift zusätzlich
auf Notizen, Gespräche mit Zeitgenossen und Archivfunde zurück, um
Biografie und Poetik des Autors nachzuzeichnen.
1907 in Wologda, im Norden Russlands, in die Familie eines orthodoxen
Geistlichen hineingeboren, wollte Schalamow schon früh schreiben. Für das
Studium ging er 1924 nach Moskau und versuchte, in der literarischen Szene
Fuß zu fassen, was ihm jedoch nicht gelingt. 1928 wegen seiner
(wohlweislich verschwiegenen) Herkunft aus einer Priesterfamilie von der
Universität relegiert, wurde er 1929 das erste Mal verhaftet und verbrachte
zwei Jahre im Norden Russlands, in einem der ersten sowjetischen
Zwangsarbeiterlager.
## Leninistische Opposition
Bis zu seiner zweiten Verhaftung 1937 arbeitete er als Journalist und
veröffentlichte erste Erzählungen. Noch in dieser Zeit bezeichnete er sich
als Anhänger der leninistischen Opposition. Und unter den rund 100
überlieferten journalistischen Texten sind auch solche, schreibt Franziska
Thun-Hohenstein, die im Sinne des Regimes zur Denunziation aufrufen.
Erst seine zweite Haft an der Kolyma wurde für Schalamow zum Wendepunkt.
Zwar hat er später hin und wieder die Aufbruchsstimmung der 1920er Jahren
verklärt, aber der Glaube an den Sozialismus sowjetischer Prägung war
gebrochen.
Heute kann man sich die Euphorie kaum mehr vorstellen, die die
Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns Roman „Ein Tag im Leben des
Iwan Denissowitsch“ im November 1962 in der Literaturzeitschrift Novi Mir
hervorrief. Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag 1956, in der er die
Verbrechen Stalins angeprangert hatte, war geheim gewesen und nur langsam
in die sowjetische Öffentlichkeit durchgesickert.
Außerdem hatte er vieles verschwiegen und war mehr oder weniger abstrakt
geblieben. In Solschenizyns Roman dagegen wurde zum ersten Mal für jeden,
der eine Ausgabe von Nowy Mir in die Hände bekommen konnte, konkret der
Schrecken eines Lagers beschrieben.
## Auseinandersetzung mit Solschenizyn
Dass Schalamow dieser von Solschenizyn geschilderte Tag im Vergleich zu
einem realen Tag in den Goldgruben der Kolyma harmlos erschien, hat die
euphorische Wirkung auf ihn nicht gemindert. Liest man die ersten Briefe,
die er an Solschenizyn nach der Veröffentlichung von dessen Roman schrieb,
lässt sich erahnen, welche Hoffnungen dieser Text in der damaligen
Sowjetunion hervorgerufen hat.
Endlich würde das Erlittene öffentlich wahrgenommen, endlich würden – so
die Hoffnung Schalamows – auch seine eigenen Texte, die er immer wieder zu
veröffentlichen versucht hatte, erscheinen können.
Doch „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ konnte in der kurzen Phase
des Tauwetters wohl auch nur deshalb gedruckt werden, weil in ihr nicht das
ganze Grauen, die ganze Menschenverachtung des Gulags eingegangen war.
Solschenizyn wurde einer der bekanntesten sowjetischen Dissidenten und
bekam 1970 den Literaturnobelpreis. Schalamow dagegen gelang es nicht, die
auf vier Bände angewachsenen schonungsloseren „Erzählungen aus Kolyma“ in
der Sowjetunion zu veröffentlichen.
Nur ein paar Erzählungen und fünf von der Zensur mehr oder weniger
verstümmelte Gedichtbände von ihm wurden gedruckt. Bis zur Veröffentlichung
der russischen Werkausgabe in den 1990er Jahren blieb er deshalb außerhalb
der Szene literarisch Interessierter unbekannt.
## Sprache des Widerstands
Wie Imre Kertész im „Roman eines Schicksallosen“ bewusst eine neue
Schreibweise für seine Erfahrungen in Auschwitz gewählt hatte, meinte
Schalamow, dass auch der Gulag anders erzählt werden müsse. Solschenizyn
dagegen gebe mit den Mitteln der russischen Realisten der zweiten Hälfte
des 19. Jahrunderts dem Lager einen falschen literarischen Ausdruck.
Umgekehrt äußerte sich Solschenizyn enttäuscht über die Prosa Schalamows
und bestätigte damit indirekt dessen Eindruck von der Poetik des
Schriftstellerkollegen. „Es stimmt“, meinte er, „dass mich die Erzählung…
Schalamows literarisch nicht zufriedenstellten. Mir fehlten in allen
Charakteren Personen mit Vergangenheit und mit einem besonderen Blick auf
das Leben.“
Aber genau das wollte Schalamow. Er wollte von Charakterlosigkeit,
Vergangenheitslosigkeit oder – mit dem Begriff von Imre Kertész – von
Schicksallosigkeit erzählen. Denn im Lager wurde jedem Häftling sein
Charakter, seine Vergangenheit und sein Schicksal genommen. [2][Das
Individuum wurde zu einer Nummer, zu einer anonymen Arbeitskraft] gemacht,
dessen einziges Ziel nur darin bestehen konnte, den Tag zu überleben.
Schalamow war der Auffassung, dass eine Prosa über die Erfahrungen im Gulag
eine autofiktionale Prosa sein müsste. Er knüpft damit im Gegensatz zu
Solschenizyn an die Moderne an. Marcel Proust, dessen ersten Band seiner
„Suche nach der verlorenen Zeit“ Schalamow noch in Sibirien las, war für
ihn ein Genie, das die Absicht Flauberts umgesetzt habe, einen Roman zu
schreiben, der allein von der Form her Bestand hat.
Es sollte eine „körperliche“ Prosa sein, eine, in der der Autor die
Schrecken des Lagers noch einmal durchlebt. Die in ihrer sprachlichen
Kargheit nicht nur der sibirischen Schneelandschaft entspricht, sondern
gleichzeitig der äußersten Reduzierung des Horizonts der Lagerhäftlinge auf
das tägliche Überleben Rechnung trug.
Hier unterscheidet sich Schalamows Poetik von der Kertész’, der einmal
meinte, dass der „Roman eines Schicksallosen“ eigentlich kein Roman über
Auschwitz sei, weil man über Auschwitz nicht schreiben könne. Kertész
versucht das Grauen nicht unmittelbar, in einem „körperlichen“ Schreibakt
zu erzählen, sondern den Schrecken mit sarkastischer Ironie erzählerisch zu
umkreisen.
## Elendes Schicksal
Jahrzehntelang litt Warlam Schalamow unter Krankheiten als Folge der
Lagerhaft. 1973 wurde er in ein Altersheim eingewiesen. Er starb 1982, fast
blind und taub, kurz nach der Einlieferung in die Psychiatrie, an einer
Lungenentzündung.
Die Einweisung war, wie Jelena Sacharowa, die Frau des Physikers und
Dissidenten Andrei Sacharow, in einem Erinnerungstext schrieb, aufgrund
einer falschen Diagnose verfügt worden. Wahrscheinlich um Aufsehen zu
vermeiden, denn sein elendes Schicksal in einem Invalidenheim begann die
Aufmerksamkeit von prominenten sowjetischer Autoren auf sich zu ziehen.
Sacharowa, die sich mit Freunden das letzte Jahr vor seinem Tod um
Schalamow gekümmert hatte, berichtet auch von seiner Beerdigung. Eine Szene
darin drückt [3][auf gespenstische Weise die Mentalität der heutigen
Mehrheit] der russischen Bevölkerung aus, jene Mischung aus Opportunismus,
Passivität und naivem Führerkult. Sie ist die Folge des verdrängten
Stalinismus, gegen die Schalamow seit dem Ende des Gulags angeschrieben
hatte.
„Am Fahrerhaus des Bestattungsbusses war ein Stalin-Bild befestigt. Einer
meiner Freunde ging zum Fahrer und gab ihm die traditionelle Flasche Wodka.
Der fragte, wer der Tote sei. Als er hörte, dass es ein Schriftsteller war,
der im Lager gesessen hatte, entschuldigte er sich und entfernte das Bild.“
4 Mar 2023
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## AUTOREN
Fokke Joel
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