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# taz.de -- Unendliche Geschichte: Ist Stalin gestern gestorben?
> Am 5. März 1953 wurde der Tod von Josef Stalin publik. Gestorben schien
> der sowjetische Diktator erst 1989. Zuletzt geistert er wieder durch
> Russland.
Bild: Moskau, 5. März 2024: ein Anhänger der Kommunistischen Partei Russlands…
Am 1. März 1953 erlitt Stalin einen Schlaganfall. Die Bewacher, die sich
lange nicht trauten, sein Zimmer zu betreten, fanden ihn bewusstlos auf dem
Boden liegend. Erst am 3. März wurde ein Bulletin veröffentlicht, und es
war klar: Stalin lag im Sterben. Doch für Millionen sowjetischer Bürger war
es unmöglich zu glauben, dass der sterben könnte, der eigentlich ewig leben
sollte.
Ich war dreieinhalb Jahre alt, aber ich erinnere mich an diese Tage, weil
man nur darüber sprach, ob Stalin im Sterben liegt oder bereits tot ist.
Die Atmosphäre war angespannt. Man fürchtete, dass nach Stalin alles noch
schlimmer wird. Denn wir waren Juden – und in diesem Moment waren alle in
der Familie entlassen und erwarteten eine Verhaftung. Viele Ärzte wurden
verhaftet und beschuldigt, sie hätten geplant, die Parteiführung zu
vergiften.
Als am 5. März Stalins Tod verkündet wurde, weinte das ganze Land – mit
Ausnahme der Gulag-Häftlinge und der wenigen, die wussten, dass ein
blutiger Diktator die Welt verlassen hatte. Einige Tage später riss er noch
hunderte Moskauer mit sich in den Tod, die in dem Massengedränge bei seiner
Beerdigung ums Leben kamen.
## Tauwetter setzt ein, Personenkult endet
Nach seinem Tod kam kein Weltuntergang. Im Gegenteil, eine
„Tauwetter“-Periode begann. Stalins Denkmäler wurden abgerissen, Porträts
entfernt, Menschen aus dem Gulag entlassen. Man fand dafür eine Formel,
„Kampf gegen den Personenkult“, der bald zu Ende war. Aber der Massenterror
kehrte nicht mehr zurück. Doch das von Stalin geschaffene System blieb
weiter bestehen; niemand konnte ihm entkommen – weder die Ungarn 1956 noch
die Tschechen 1968.
Erst mit Beginn der Perestroika – ab 1986 – entstand das Gefühl, dass
Stalin tatsächlich tot sei. Seine Welt begann zusammenzubrechen, die
Sowjetunion zerfiel. Doch das Erbe des Stalinismus erwies sich als
zählebig. Bald begann der Tschetschenienkrieg – zunächst nur als
„Aufstoßen“ des Imperiums wahrgenommen, entwickelte er sich zum Auftakt
einer bösartigen Restauration.
Mit Putins Machteintritt Ende 1999 wurde die autoritäre Herrschaft erneut
zur Staatsdoktrin. Im Land wurden wieder Stalin-Denkmäler errichtet und
eine verlogene Erinnerung an den Weltkrieg kultiviert, in der selbst
Stalins Pakt mit Hitler nur positiv erwähnt werden durfte.
## Brutaler Terror nach Stalins Vorbild
[1][Putin macht keinen Hehl daraus], dass Stalins Geist über seiner Idee
schwebt, sich das „Eigene“ zurückzuholen, vor allem die Ukraine. Für die
Ukraine bedeutet Stalin brutalen Terror, die Zerstörung der ukrainischen
Nationalkultur und den von ihm organisierten Holodomor, der Millionen das
Leben kostete. Der Widerstand in der Westukraine nach 1945 dagegen wurde
unterdrückt, viele wurden verhaftet und deportiert. Die heutige russische
Aggression gegen die Ukraine knüpft an Stalins Politik an.
In den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden Denkmäler für
die Opfer politischer Repression und des Holodomors zerstört. In Mariupol
eröffnet ein Museum für Andrei Schdanow, Stalins engsten Gefährten,
faktisch zweite Person in der stalinistischen Hierarchie der
Nachkriegszeit.
Heute, in den schwersten Tagen für die Ukraine, scheint es, als könnte
Stalin aus seinem Grab grinsend ein verwirrtes, ängstliches Europa
beobachten, wie es Putins Aggression versucht mit Beschwichtigung zu
begegnen, während sich der US-amerikanische Verbündete abwendet.
Bald wird die Dauer von Putins Herrschaftszeit die Stalins erreicht haben –
es fehlt nur noch wenig. Und es gibt kaum Hoffnung, dass er sie nicht
übertreffen wird. Stalin führte im Gegensatz zu Putin kein gesundes Leben,
hatte Angst vor Ärzten und trieb seinen eigenen Tod voran. Doch es bleibt
die bittere Wahrheit: Man hat es nie geschafft, ihn wirklich zu begraben.
Das erste Signal dafür, dass sich das Land verändert – falls wir es noch
erleben –, wird die endgültige Beisetzung Stalins sein.
5 Mar 2025
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## AUTOREN
Irina Scherbakowa
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Stalin
UdSSR
Wladimir Putin
Kolumne Unendliche Geschichte
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Sowjetunion
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