Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Serebrennikov-Film „Leto“: Harmlos, aber auch unerbittlich
> Das Musiker-Biopic ist ein nachdenklicher Film über die prekäre Balance
> innerer und äußerer Freiheit. Sein Regisseur hat in Russland Hausarrest.
Bild: Trotzig die sowjetische Wirklichkeit ignorieren: Teo Yoo als Viktor Tsoy …
Das war jetzt also ‚Zoologischer Garten‘“, stellt der strenge ältere Herr
fest, der im Leningrader Rock-Klub der frühen 80er hinter der Bühne
administriert. „Und wer kommt als Nächstes?“ – „Zuerst ‚Seltsame Spi…
und dann ‚Asche‘.“ Seinem Gesicht ist anzusehen, dass ihm die Namen
Unwohlsein bereiten, gerade weil sie auf unbestimmbare Weise jenseits der
gehüteten Regeln des Sozialistischen Realismus liegen.
Die Rockgruppen (russisch: „Zoopark“, „Strannye Igry“ und „Pepel“) …
tatsächlich gegeben. Und der Leningrader „Rock-Klub“, in dessen Innerstes
Kirill Serebrennikov mit den ersten Szenen von „Leto“ führt, gilt als Wiege
einer sowjetischen Jugendkultur, die den Aufbruch zur Perestroika und
allem, was danach kam, markierte.
Es gibt auch Stimmen, die behaupten, dass der Leningrader Rock-Klub, der
als Veranstaltungsort und Musikervereinigung Teile des sowjetischen
Rock-Untergrunds „legalisierte“, vom KGB kontrolliert worden sei, um die
Szene besser im Griff zu haben. Die historische Aufarbeitung vergleichbarer
Geschichten legt nahe, dass sehr wohl beides wahr sein könnte.
Kirill Serebrennikovs Musiker-Biopic weist interessante Ähnlichkeiten und
Abweichungen zu den thematisch verwandten Filmen wie Andreas Dresens
„Gundermann“, Pawel Pawlikowskis „Cold War“ (der nächste Woche startet…
sogar „Bohemian Rhapsody“ auf.
„Leto“ beginnt als Backstage-Drama, mit einem buchstäblichen Einstieg auf
der Rückseite: Drei junge Frauen bahnen sich den Weg über die Feuertreppen
des Rock-Klub-Hinterhofs, um schließlich durch die Fenster der
Herrentoilette einzusteigen. Nur die spontane Hilfe der dort stehenden
Raucher bewahrt sie vor der Entdeckung durch den Hausmeister, der mit
Bewachermentalität laut davon träumt, die Fenster unter Strom zu setzen, um
solche unerlaubte Einstiege zu verhindern.
## Aufstehen ist nicht erlaubt
Die Kamera folgt den Mädchen daraufhin in den Saal, wo das Konzert von
„Zoopark“ begonnen hat. Die Stimmung ist ausgelassen, trotz der
patrouillierenden Aufsichtskräfte, die darauf achten, dass das Publikum auf
seinen Sitzen bleibt. Und auch da wird noch die Haltung kontrolliert: wenn
sich ein Fan allzu enthusiastisch vorbeugt, wird er von entschiedener Hand
zum aufrechten Sitzen angehalten. Das Hochhalten eines Plakats mit
aufgemaltem Herzen führt gar zum kleinen Handgemenge. „Wir wollen doch nur
die Band unterstützen“, rechtfertigen sich die Mädchen.
Es scheint alles sehr harmlos, aber auch unerbittlich. Der Bandname
„Zoopark“ jedoch füllt sich in diesen Szenen in selbstkritischer Bedeutung:
Lead-Sänger Mike Naumenko, dem Serebrennikov mit seinem Film ein Denkmal
setzt, muss tatsächlich Situationen wie diese im Kopf gehabt haben. Ähnlich
der Einhegung der wilden Tiere im Zoo versuchte das sowjetische System die
wilden Impulse des Rock zu zähmen – und als sowjetischer Rockmusiker musste
man das Spiel wie zwangsläufig mitmachen.
„Leto“ lässt sich einerseits lesen als pures melancholisches
Stimmungsdrama, als klassisches schönes Erinnern an schlechte Zeiten,
gefilmt in prächtigem, milchigem Schwarz-Weiß, voller hübscher formaler
Spielereien mit Splitscreen, gefakten Super-8-Home-Movies, übermaltem
Zelluloid und ein paar wunderbaren Musical-Szenen. Andererseits baut
Serebrennikov in seine hochatmosphärische Rekonstruktion einer
untergegangenen Epoche stets so etwas wie einen doppelten Boden ein.
Der Film handelt vom sowjetischen „Rock Spirit“ der frühen 80er, von jungen
Menschen, die, melancholisch in den Westen schauend, David Bowie und
Blondie entdecken und darüber die sowjetische Wirklichkeit trotzig
ignorieren. Ansonsten machen sie das Übliche durch: Freundschaft, Liebe,
verpasste Gelegenheiten. Serebrennikov inszeniert das alles mit perfektem
Timing und drei ungeheuer charismatischen Schauspielern im Zentrum: dem
Deutschkoreaner Teo Yoo als Viktor Tsoy, dem russischen Musiker Roma Zver
alias Roman Bilyk als Mike Naumenko und der Entdeckung Irina Starshenbaum
als dessen Frau Natasha. Im dichten Verweben von Musik, Wehmut und
Zeitgeschichte steht „Leto“ Pawlikowskis „Cold War“ in nichts nach.
Aber über all die dichte Atmosphäre hinweg ist „Leto“, und darin Dresens
„Gundermann“ näher, ein nachdenklicher Film über die prekäre Balance von
innerer und äußerer künstlerischer Freiheit. Was soll man tun, welche
Lieder soll man singen, wie viel politisches Engagement zeigen? Es sind
Fragen, die unmittelbar auf heute verweisen und auf den Regisseur selbst,
der kurz vor Ende der Dreharbeiten zu „Leto“ verhaftet und unter
„Hausarrest“ gestellt wurde.
Serebrennikov, der in Moskau seit Jahren ein Zentrum für experimentelles
Theater leitet, wird vorgeworfen, Fördermittel veruntreut zu haben. Der
Prozess gegen ihn hätte Ende Oktober beginnen sollen, ist aber erneut
verschoben worden.
## Tabus gebrochen
Zwar gelten im Russland der Gegenwart nicht mehr die engen Vorgaben von
einst, dennoch ist jedem Beobachter klar, dass Serebrennikov in seinen
Theater- und Kinoarbeiten gegen Tabus verstößt, weshalb die Anklage gegen
ihn nicht nur von Oppositionellen als Maßregelung verstanden wird.
Dass er trotz Hausarrest nicht nur den Film „Leto“ fertigstellen konnte,
sondern sowohl das biografische Ballettstück „Nureyev“ im Bolschoi-Theater
im vergangenen Dezember und letzte Woche die Mozart-Oper „Così fan tutte“
in Zürich bewerkstelligte, belegt erst recht die zwiespältigen Taktiken des
Putin-Regimes.
Zwar ist Serebrennikov im Hausarrest der direkte Kontakt mit der Außenwelt
untersagt, aber die Arbeit am Computer ist ihm gestattet. Für die
jeweiligen Inszenierungen kommuniziert der Regisseur per USB-Flash-Drive
mit Schauspielern und Technikern, die sein Rechtsanwalt hin- und herträgt.
Worin Serebrennikovs Verteidiger eine klare Arbeitsbehinderung sehen,
stellt die staatliche Verfolgerseite die Theaterpremieren und den Film als
Belege dafür heraus, dass Serebrennikov tatsächlich nicht unterdrückt
werde, sondern lediglich eine rechtmäßige Ermittlung stattfände.
Vor diesem aufgeladenen politischen Hintergrund erscheint die Melancholie
der Rockmusiker in „Leto“ auf den ersten Blick fast zu unpolitisch. Zumal
Serebrennikov ins Zentrum seines Films eher den heute fast vergessenen Mike
Naumenko setzt, statt mit Viktor Tsoy den Aufstieg und Fall eines der
ersten Megastars des russischen Rock nachzuzeichnen, der dazu noch heute
eine Kultfigur darstellt. Beide sind fast gleichzeitig und früh verstorben,
1991 (Naumenko) beziehungsweise 1990 (Tsoy). Die Kommerzialisierung, oder
wie manche zuspitzend sagen: „Patriarchalisierung“ des russischen Rock
haben sie nicht mehr miterlebt.
Für den Mythos Tsoy und die Unmöglichkeit seiner filmischen Darstellung
findet Serebrennikov ein hübsches Verfahren: Als der noch unbekannte junge
Musiker Viktor sich dem älteren, als Doyen der Leningrader Szene
auftretenden Mike vorstellt, schaut ihm eine bebrillte Nebenfigur kritisch
ins Gesicht, um dann mit Blick in die Kamera die vierte Wand zu
durchbrechen und uns, den Zuschauern, mitzuteilen: „Er sieht ihm nicht
ähnlich.“
## „Amerika ist unser Feind“
Diese Figur des „Skeptikers“ taucht immer wieder auf, etwa nach einer der
absolut schönsten Sequenzen des Films und vielleicht des Kinojahrs, wenn
Serebrennikov einen Bus voll Sowjetbürger Iggy Pops „The Passenger“
nachsingen und -tanzen lässt. „Das war nicht so“, steht auf dem Schild, das
der Skeptiker am Ende in die Kamera hält. Später fügt er hinzu: obwohl ich
mir das gewünscht hätte.
Es gibt in „Leto“ wenig Handlung im eigentlichen Sinn, dafür durchwandert
die Kamera immer wieder die lebenden Panoptika der sowjetischen
Gemeinschaftswohnungen. Angefeindet von Normalbürgern mit Sprüchen wie
„Schämt euch!“ oder „Amerika ist unser Feind und ihr singt seine Lieder!…
bewegen sich die Protagonisten von Hausfest zu Hausfest und brüten über
ihre Musik und ihr Schicksal.
Wie „Bohemian Rhapsody“ es mit den Queen-Songs tut, markieren auch in
„Leto“ einzelne Songs die Entwicklungsstufen der Helden, aber wo „Bohemian
Rhapsody“ das Musikmachen als mitreißende, expressive Kreativität zeigt,
entstehen die sowjetischen Äquivalente wie aus traurigem Nachdenken über
die eigene Rückständigkeit und Zweitrangigkeit gegenüber den großen
westlichen Vorbildern heraus.
„Du willst wie Dylan sein?“, fragt der Skeptiker Mike irgendwann, „dann
musst du auch von konkreten Dingen wie Vietnamkrieg und Bürgerrechten
singen“. Das aber hat sich die sowjetische Rockmusik kaum getraut. „Wir
leben im Sumpf“, hält Mike dem Skeptiker entgegen, „aber auch da fühlt man
sich wohl, solange man die größte Kröte ist.“ Was man durchaus als
politischen Kommentar zur heutigen russischen Kulturszene verstehen kann.
8 Nov 2018
## AUTOREN
Barbara Schweizerhof
## TAGS
Kirill Serebrennikov
Russland
Sowjetunion
Rock
Deutsches Theater
Theater
Russland
Arte
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kirill Serebrennikovs Stück für Berlin: Der Raum des Erzählens
Die Liebe überwindet alle Hindernisse. Davon erzählt Kirill Serebrennikovs
Inszenierung „Decamerone“ im Deutschen Theater Berlin.
Probenbesuch bei Kirill Serebrennikov: Das Knurren der Rentnerinnen
Kirill Serebrennikov darf Moskau nicht verlassen. Also probt er im
Gogolcenter in Moskau „Decamerone“ mit dem Deutschen Theater aus Berlin.
Zensur von Rapmusikern in Russland: Putins Punchline
In Russland sind Rapper_innen wie Husky und IC3PEAK von einer
Repressionswelle betroffen. Der Präsident kündigt an, den Rap zu lenken.
Film „Der die Zeichen liest“ auf Arte: Der Herr spricht
Arte zeigt eine Verfilmung von Kirill Serebrennikov. Dem Regisseur wird in
Russland gerade unter fadenscheinigen Anschuldigungen der Prozess gemacht.
Moskauer Gogol Theater in Berlin: Die Poesie und die Politik
Der Regisseur Kirill Serebrennikov hat in Moskau Hausarrest. Aber sein
Theater spielt. Auch in Berlin, mit „Kafka“ und „Machine Müller“.
Komische Oper „Der Barbier von Sevilla“: Endlich lustige Salafisten
Kirill Serebrennikov inszeniert an der Komischen Oper Rossinis „Der Barbier
von Sevilla“. Mit Handys, Selfies und Concita Wurst.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.