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# taz.de -- Film „Der die Zeichen liest“ auf Arte: Der Herr spricht
> Arte zeigt eine Verfilmung von Kirill Serebrennikov. Dem Regisseur wird
> in Russland gerade unter fadenscheinigen Anschuldigungen der Prozess
> gemacht.
Bild: Venias Mutter und seine Biologielehrerin
Den gut gemeinten Problemfilm über das muslimische Mädchen, das da denkt,
aus Gründen seiner Religion nicht am Schwimmunterricht teilnehmen zu
können, hat es im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen natürlich
schon gegeben („Die Freischwimmerin“, 2014).
Was aber, wenn ein Schüler (Pyotr Skvortsov) einmal die christliche Bibel
für bare Münze und also für Gottes Wort nimmt und daraus
Verhaltensmaßregeln für sich und andere ableitet: „Der Herr spricht: ‚Auch
sollen die Frauen sich anständig und bescheiden und zurückhaltend kleiden.‘
Das heißt dann: keine Bikinis!“ Die konfliktscheue Direktorin findet
Badeanzüge eigentlich auch angemessener und die junge liberale Lehrerin
(Victoria Isakova) fragt, ob die Jungen beim Schwimmen dann auch Badeanzüge
tragen sollen.
Es sind jedenfalls nicht, wie seine Mutter zunächst noch meint,
„unkontrollierte Erektionen“, die den Schüler Venia motivieren, seine
Umwelt mit Bibelzitaten zu nerven, ja zu terrorisieren: „In der Bibel
steht: ‚Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren
lassen.‘ Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht!“ Dass seine Lehrerin die
Evolutionstheorie lehrt, erlaubt er schon gar nicht.
Wieder findet die Direktorin, dass man die Schöpfungsgeschichte ja wirklich
nicht so einfach außen vor lassen könne. Wieder gibt ihr die junge Lehrerin
Paroli: „In der Bibel steht zum Beispiel, dass die Fledermäuse Vögel sind.
Ich kann als Biologielehrerin nicht so tun, als hätte dieser Unsinn eine
Berechtigung. Es stimmt nicht!“ Antwort der Direktorin: „Aber Fledermäuse
können hervorragend fliegen. Und im weiteren Sinne sind sie Vögel. Und
genau das ist in der Bibel gemeint!“
## Groteske Diskussionen
Während Biologie- und Religionsunterricht an (west-)deutschen Schulen
jahrzehntelang friedlich koexistieren konnten, muss es solche grotesken
Diskussionen mit Kreationisten an US-Schulen ja tatsächlich gegeben haben.
Ausgedacht hat sich das Marius von Mayenburg, Hausautor der Berliner
Schaubühne (wo „Märtyrer“ 2012 uraufgeführt wurde). Verfilmt hat das –
unter dem Titel „Der die Zeichen liest“ – [1][der russische Regisseur
Kirill Serebrennikov].
Der Kirill Serebrennikov, dessen neuer Film „Leto“ (über den russischen
Rockmusiker Viktor Zoi) am Donnerstag in den hiesigen Kinos anläuft. Der
während der Dreharbeiten zu „Leto“ festgenommen wurde und den Film im
Hausarrest fertigstellen musste. Der nicht mehr zu seiner sterbenden Mutter
durfte. Mit dem sich Maren Ade, Cate Blanchett, Lars Eidinger, Didier
Eribon, Nina Hoss, Elfriede Jelinek, Volker Schlöndorff, Lars von Trier und
zahlreiche weitere Kulturschaffende, insgesamt 54.477 Unterzeichner, in
einer Petition (auf [2][change.org]) solidarisch erklärt haben.
Dem der Prozess gemacht wird, weil er als Leiter des Moskauer
Gogol-Theaters 68 Millionen Rubel (etwa eine Millionen Euro) veruntreut
haben soll. Der das Geld für eine Shakespeare-Inszenierung verbucht, diese
aber nie produziert haben soll (während Videoaufnahmen, Rezensionen,
Gastspiele und Preisnominierungen die Existenz der Produktion so eindeutig
zu belegen scheinen).
Der mit „fadenscheinigen Vorwürfe(n) […] als Opfer eines politisch
motivierten Rufmords […] mundtot gemacht werden soll“, wie es in der
Petition heißt. An dem Wladimir Putin (mal wieder) ein Exempel statuieren
will?
## Der Film stellt die Gesellschaft in Frage
„Der die Zeichen liest“ stellt die gesellschaftliche Ordnung – nicht nur …
Russland – in Frage. Mit dem Umzug der Handlung aus Deutschland nach
Russland – nach Kaliningrad – findet über die Verlagerung des religiösen
Fundamentalismus vom Islam zum Christentum aber ein zweiter
Perspektivwechsel statt.
Da sitzt ganz selbstverständlich ein Priester mit in den Schulkonferenzen,
und das Bildungssystem – die Direktorin mit ihrem vorauseilenden Gehorsam –
trägt noch deutlich sowjetische Züge. Nicht vergessen sind die
Blasphemie-Vorwürfe gegen Pussy Riot. Venia ist mit seinem Fanatismus
einfach nur ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen. Der Märtyrer in der
Geschichte, das ist am Ende nicht er, das ist die junge liberale Lehrerin.
7 Nov 2018
## LINKS
[1] /Moskauer-Gogol-Theater-in-Berlin/!5493161
[2] https://www.change.org/p/freiheit-f%C3%BCr-kirill-serebrennikov-freekirill
## AUTOREN
Jens Müller
## TAGS
Arte
Kirill Serebrennikov
Film
Pussy Riot
Kirill Serebrennikov
Journalismus
Filmfestival
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