| # taz.de -- Buch über Nachwirken der Gezi-Proteste: Kunst ist kein Politikersa… | |
| > Rehabilitation des Kollektivs? Die Künstlerin Işıl Eğrikavuk beschreibt | |
| > in ihrem Buch, wie die Proteste in der Türkei 2013 in der Kunst fortleben | |
| > können. | |
| Bild: Gezi Park Besetzer im Juni 2013 | |
| Streunende Katzen, Kinder auf dem Spielplatz, Spaziergänger dösen auf | |
| Parkbänken. Nichts erinnert mehr in diesen Sommertagen daran, dass in | |
| Istanbuls Gezipark am zentralen Taksimplatz vor elf Jahren ein Aufstand | |
| tobte, der das Regime des Recep Tayyip Erdoğan um ein Haar ins Wanken | |
| gebracht hätte. | |
| Wie viele junge Türk:innen war auch Işıl Eğrikavuk fasziniert davon, wie | |
| damals im Gezipark für eine kurze Zeit eine andere türkische Republik zum | |
| Vorschein kam, [1][welch kreativen Ausdruck die Proteste in Istanbul ebenso | |
| hervorbrachten wie die fast gleichzeitigen Aufstände] der Schirm-Revolution | |
| in Hongkong, Occupy Wall Street in New York oder der Arabischen Revolution. | |
| Die fixe Idee, die sich seitdem im Kopf der 1980 geborenen | |
| Performancekünstlerin festsetzte: Ließen sich diese kreativen Formen, die | |
| sonst durch Meinungs- und Protestfreiheit eingeschränkt sind, wenigstens in | |
| einem künstlerischen Zusammenhang wiedererwecken? | |
| Das klingt nach dem typischen Missverständnis der Kunstszene von Kunst als | |
| Politikersatz. Doch die Ergebnisse des Projektes, das Eğrikavuk in Istanbul | |
| mit sechs türkischen Kunstkollektiven durchführte, erschließen vielmehr | |
| eine unerwartbare soziale Dimension. | |
| ## Kunstprojekt entwickelte sich im Dialog | |
| Nun hat Eğrikavuk, die mittlerweile in Berlin an der Universität der Künste | |
| Kommunikationswissenschaften lehrt, ihre Beobachtung aus der Zusammenarbeit | |
| mit den Kollektiven in dem lesenswerten Büchlein „Global Protests Through | |
| Art“ veröffentlicht. Das von ihr initiierte Kunstprojekt hatte kein festes | |
| Thema, sondern entwickelte sich, ebenso wie die gemeinsame Ausstellung, in | |
| die es im November 2017 im Istanbuler Halk Art Space mündete, im Dialog und | |
| somit im Geiste von Gezi. | |
| Das Kollektiv Pelesiyer fertigte etwa für die Vernissage eine große Stange | |
| Brot aus Mehl an, das es sich zuvor bei den Nachbarn geborgt hatte. Das | |
| Ganze kreierte eine Art „safe space“. Er bescherte den Beteiligten das | |
| Gefühl „emotionaler Solidarität“ und das, sich frei ausdrücken zu könne… | |
| ein nicht zu unterschätzender Vorteil in der repressiven Stimmung der | |
| Türkei. | |
| Dabei sind Kunstwerke entstanden, denen der Brückenschlag zum „Publikum“ | |
| gelang, war es doch von Anbeginn in das Werden der Schau einbezogen. | |
| Eğrikavuks wenige Jahre nach Gezi gestartetes Projekt formulierte damit ein | |
| Verständnis von Kunst als kollaborativer Praxis und die Frage nach der | |
| Infrastruktur der Kunst. | |
| Jedoch geht es bei Eğrikavuks Kunstverständnis eher darum, dass die Kunst | |
| nach außen anschlussfähig ist, es geht ihr um eine „transformative power of | |
| art“. Einen plakativen „Artivism“ findet man in ihrer Studie nicht. | |
| ## Geistige Spätfolgen | |
| Gezi als politischer Akt mag gescheitert sein. Eğrikavuks theoretisch von | |
| Paulo Freire bis Donna Haraway gut fundierter Projektbericht ist jedoch ein | |
| Beweis dafür, dass die Istanbuler Proteste zumindest geistig ihre | |
| Spätfolgen haben. Denn das Prinzip der „dialogue-based-art practice“, die | |
| sie aus ihren Recherchen destilliert, ist mehr als eine türkische | |
| Spezialität. Vielmehr liefert es einen Baustein einer gemeinschaftlichen | |
| Kunstproduktion und -repräsentation. | |
| Ausgehend von dem Bedürfnis der Kunstkollektive nach wechselseitiger | |
| Vergewisserung plädiert Eğrikavuk gar dafür, „Liebe“ als Triebkraft der | |
| künstlerischen Arbeit anzuerkennen. Nicht im romantischen Sinn, sondern | |
| verstanden als Verbundenheit, Offenheit und Vertrauen. | |
| „Emotions and support“, wie es viele Kollektive formulierten, kann nicht | |
| die letzte Antwort auf eine politische Ästhetik sein. Schon weil dieses | |
| Bedürfnis nach Zusammenhalt damit einhergehen kann, dass andere | |
| ausgeschlossen werden. | |
| Dennoch: „Making friends“ – der Slogan des Kuratorenkollektivs ruangrupa | |
| [2][für die umstrittene documenta 15] – wurde vielleicht vorschnell als | |
| Absage an die Kunst verhöhnt. Im Lichte von Eğrikavuk Studie lässt sich die | |
| Losung auch als Aufruf verstehen, Kunst in ihrem „safe space“ als Ressource | |
| des Gemeinschaftlichen zu nutzen. | |
| 5 Jul 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Protestarchitektur-in-Frankfurt/!5958410 | |
| [2] /Antisemitismus-auf-der-documenta-fifteen/!5860742 | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
| ## TAGS | |
| Opposition in der Türkei | |
| Türkei | |
| Kunst Türkei | |
| Recep Tayyip Erdoğan | |
| Buch | |
| Film | |
| Theaterfestival | |
| Wahlen in der Türkei 2023 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer Roman von David Wagner: Was so unglaublich glitzert | |
| Über das Staunen: David Wagners Roman „Verkin“ führt nach Istanbul und | |
| durch das literarische Leben seiner türkisch-armenischen Protagonistin. | |
| Regisseur Emin Alper über „Burning Days“: „Ich bewirke mehr, wenn ich bl… | |
| Regisseur Emin Alper zeigt in seinem Spielfilm „Burning Days“ eine korrupte | |
| türkische Gesellschaft. Er konnte ihn trotz Einschüchterungen drehen. | |
| Gorki-Intendantin über Protestformen: „Mutter kam erstmals zur Demo“ | |
| Viele Protestformen prägten die Gezi-Park-Demos in Istanbul. Nun knüpft ein | |
| Festival des Gorki Theaters daran an, sagen Shermin Langhoff und Erden | |
| Kosova. | |
| Drei Kunstmachende über Kultur in Türkei: „Auf einem schmalen Grat“ | |
| Wie frei ist die türkische Kunstszene noch nach zwanzig Jahren Erdoğan? Ein | |
| Gespräch mit Silvina Der Meguerditchian, Pinar Öğrenci und Viron Erol Vert. |