Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neuer Roman von David Wagner: Was so unglaublich glitzert
> Über das Staunen: David Wagners Roman „Verkin“ führt nach Istanbul und
> durch das literarische Leben seiner türkisch-armenischen Protagonistin.
Bild: Die Hauptfigur von „Verkin“ lebt in Istanbul großbürgerlich-bohemis…
Ein ebenso pralles wie mondänes türkisch-armenisches Frauenleben. Ein
deutscher Schriftsteller, der sich dieses Leben Stück für Stück erzählen
lässt, es aufschreibt und Erinnerungen an sein eigenes Leben anfügt. Kein
Plot im eigentlichen Sinn, dafür ein anfängliches Umkreisen und
allmähliches Selbstverständlichwerden der jahrelangen Freundschaft, die
sich in der Beziehung zwischen Hauptfigur und Erzähler entwickelt.
Treffen, Ausflüge, Gespräche. Das ist David Wagners neuer Roman „Verkin“,
und es gibt immer wieder zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten, auf
dieses Buch zu reagieren, eine thematische und eine ästhetische; auf beide
bereitet einen David Wagner gleich in der Eröffnungsszene vor.
In dieser Szene geht der Ich-Erzähler zum ersten Mal durch das Anwesen
dieser Verkin, so heißt die Hauptfigur, im Istanbuler Stadtteil Tarabya,
und man spürt das gleich Notizen Machende, auch soziologisch Bewehrte in
seinem Blick. Alles wird von ihm genau gescannt, Verkins Kleidung
(schlichtes schwarzes Kleid, silberfarbene Sandaletten), die Wohnsituation
(es gibt Rosenstöcke, Springbrunnen und Hausangestellte), das soziale
Umfeld (eine interessant bohemistische Freundesgruppe trinkt Tee um einen
Esstisch).
Auch die Lage des Hauses, von Verkins Vater an einen Hang über den Bosporus
gebaut, wird sorgfältig registriert. Der Erzähler beobachtet, Verkin ist
das Zentralobjekt und zugleich der Katalysator dieser Beobachtungen, von da
aus scheinen die Rollen klar verteilt, und man könnte beim Lesen jetzt eine
Mischung aus Reisebericht und literarischer Großreportage erwarten.
## Blick über den Bosporus
Doch vorher haben der Erzähler und Verkin beide noch auf der Terrasse
gestanden, um das Panorama zu überblicken, und es ist zu einem Moment der
Überwältigung und der tiefen Sprachlosigkeit gekommen. Der Ich-Erzähler
beschreibt diesen Moment so: „Wir stehen nun hoch über dem Bosporus, und
ich sehe nur tiefblau bewegtes Wasser und viel hellblauen Himmel zwischen
Europa und Asien. Und sage erst mal nichts. Ich sage nichts, weil ich
nichts sagen kann, ich falle in die Aussicht, ich fliege, ich segele über
die Wasseroberfläche bis ins Schwarze Meer, es glitzert so unglaublich
blau, grün, türkis, silberfarben und wieder blau.“
Man kennt solche Momente, Romantik ist drin und eine Überforderung durch
Eindrücke. Im realen Leben sind sie da und gehen meistens aber auch wieder
vorüber. Doch in der Literatur bleiben sie und setzen etwas in Gang, so
auch hier. Eine Tür geht auf, das Leben hat sich geändert und wird nicht
mehr so sein wie zuvor. Was nämlich in den darauf folgenden 400 Seiten so
„unglaublich glitzern“ wird, ist nicht nur die Wasseroberfläche bei
Istanbul, sondern auch das Leben dieser Verkin und außerdem auch ihre
Begegnung mit dem Erzähler, die dieser zunehmend als Geschenk erfährt.
Tatsächlich kann einen das Leben, das hier ausgebreitet wird, verblüffen.
Verkin, Mitte der vierziger Jahre geboren, ist die Tochter eines
türkisch-armenischen Großindustriellen, der zeitlebens mit den türkischen
Behörden im Clinch liegt, mehrfach im Gefängnis landet, immer wieder Wege
findet, sich und seine Unternehmen zu retten. Als verlorenes Rich Kid
wächst Verkin am Taksimplatz auf. Landet in einem Schweizer Internat.
Hat Männergeschichten inklusive diverser Ehen in Deutschland, Paris,
Manhattan, auch wieder Istanbul und diversen anderen Orten. Ist in Paris
beim Mai 68 dabei, begegnet in Manhattan den Black Panthers, hat
schließlich in Anatolien einen schweren Autounfall, bei dem sie einen
Ehemann und fast ihr linkes Bein verliert. Operationen, Kampf ums
väterliche Erbe und und und.
## Das Internet als selbstverständlicher Begleiter
Man kommt, wenn man das nacherzählend aufschreibt, ganz außer Atem, im Buch
wird dieses Leben aber ruhig entfaltet, und Interessierten möchte man das
„Look it up“ entgegenrufen, zu dem Verkin den Erzähler immer rät, wenn er
mal wieder bei den Details nicht nachkommt. Der Erzähler zückt dann immer
sein Mobiltelefon und recherchiert im Internet. Ganz nebenbei, auch das
eine Leistung, ist „Verkin“ ein Roman, in dem das Internet als
selbstverständlicher Begleiter der Handlung eingebaut ist.
Von den auktorialen Blicken in der Eingangsszene aus lässt sich der Roman,
das ist die thematische Lesart, an aktuelle Diskurse anschließen, die
Anknüpfungspunkte dafür liegen auf der Hand. Istanbul, die Entwicklung
dieser Stadt von der multikulturellen osmanischen Metropole bis zur
heutigen Megacity. Die Türkei mit all ihren Widersprüchen und aktuellen
Fragwürdigkeiten. Der Genozid an den Armeniern samt der nicht ganz so
bekannten deutschen Beteiligung daran. Auch das Jet-Set- und Bohemeleben
seit den sechziger Jahren. Das alles und noch viel mehr wird durch Verkins
Leben berührt.
Zwei Erzählsituationen gibt es. Der Erzähler und Verkin treffen sich, gehen
spazieren oder fahren in Istanbul mit der Fähre, trinken Tee und reden.
Oder sie fahren über Land, mit dem Auto oder mit der Eisenbahn, ans
Schwarze Meer, ganz in den Osten der Türkei nach Van, nach Ankara.
Streckenweise ist das Buch auch eine Road Novel. Dabei erfährt man viel
über die wechselhafte türkische Geschichte und auch zum Beispiel über
Erdoğan, Verkin ist, eine ihrer Widersprüche, AKP-Mitglied.
Erdoğan ist in diesem Roman immer präsent, zugleich aber auch interessant
relativiert. Überhaupt wird die türkische Gegenwart eingebettet in die
Historie; die Reisen folgen teils Routen, auf der schon Alexander der Große
gezogen ist. Interessant auch, dass nicht die [1][Repression um den
Gezipark], die einen vor einem Dutzend Jahren auch in Deutschland so
empörte, das eigentliche Verbrechen ist, sondern der Gezipark selbst, er
wurde auf einem ehemals armenischen Friedhof erbaut.
## Willkommen im türkischen Surrealismus
Doch sollte man bei alledem diesen Augenblick der beredten Sprachlosigkeit
und des schieren Staunens über die Spielarten der Farben auf dem Wasser
nicht vergessen. Von ihm aus ergibt sich die zweite, die ästhetische
Lesart. „Verkin“ ist eben keine Gegenwartsreportage, auch kein historischer
Roman über die Türkei einerseits und ein Frauenleben andererseits, sondern
ein immer wieder ins Epische tendierender und zugleich vom Autor ins
Pragmatische gebändigter Versuch über das Staunen. Staunen darüber, wie
weit die Welt ist. Und darüber, wie viele Widersprüche in eine Gesellschaft
passen und wie viele Leben in eine einzelne Biografie.
Dieses Staunen ist das, was der Ich-Erzähler hinzubringt. Verkin selbst und
auch ihre engeren Freunde und Begleiter haben sich mit den Verhältnissen
zwar nicht gerade achselzuckend abgefunden, aber sich doch mit ihnen
kämpferisch arrangiert. Verkin beherrscht etwa die hohe Kunst des
geschickten Verteilens kleiner Geschenke und Geldbeträge in der
allgegenwärtigen Korruption perfekt, das hat sie von ihrem Vater gelernt.
„Willkommen im türkischen Surrealismus“ oder „Welcome to Türkiye, my de…
heißt es in dem Buch gleich mehrfach.
Der Erzähler aber ist immer wieder schlicht verblüfft. „Wenn du erzählst,
hört es sich an, als hättest du zwei, drei, vier Leben gleichzeitig
geführt“, sagt er einmal zu Verkin. An anderer Stelle heißt es: „Ich bin …
Erzählparadies, ich muss nur zuhören.“ Das ist eine der Stellen, an der man
realisiert, dass das in diesem Buch vollzogene entschlossene Heraustreten
aus dem Umfeld von Berliner Gegenwart und westdeutscher Herkunft, in der
sich dieser 1971 geborene Autor bislang literarisch bewegt hat, auch
schlicht ein Glück bedeutet. Und das Glück für Verkin ihrerseits besteht
darin, dass sich hier jemand bemüht, sie in all ihren Aspekten tatsächlich
sichtbar werden zu lassen.
In manchem dockt das Buch dabei aber auch an das bisherige Werk dieses
Autors an. Seine Grundkonstruktion etwa hat David Wagner in viel kleinerem
Maßstab in der Kurzgeschichte „Die Mülltüte“ ausprobiert. In ihr will ein
Erzähler eigentlich nur den Müll raustragen, wird dann aber von der lauen
Nacht zu einem Spaziergang durch sein Viertel verführt, trifft dabei Leute,
sieht, die Mülltüte immer in der Hand, allerlei interessante Sachen.
## Autofiktion mit eigener Spielart
In Verkin will der Erzähler eigentlich ein Buch über türkische Malls
schreiben, macht auch viele Notizen dazu, doch lässt sich dann eben von der
Begegnung mit Verkin und ihren Geschichten ablenken. Das ließe sich
programmatisch fassen hin zu einer gegenwärtigen Literatur, die sich eben
nicht um Pläne, Plots, ihre Verwirklichung und ihr Scheitern dreht, sondern
um die Erfahrungen, die einem auf seiner Lebensreise zustoßen können. Das
Glück des Findens, ohne eigentlich danach gesucht zu haben.
Auf den gegenwärtigen Trend zur Autofiktion, den David Wagner in den
vergangenen Jahren als Autor mit angeschoben hat, ließe sich das Buch auch
beziehen. Denn dieser Ich-Erzähler hat mit dem realen David Wagner soviel
gemein, dass man sie leicht in eins setzen kann, auch wenn es im Buch
selbst mehrere deutliche Hinweise darauf gibt, dass es sich um einen Roman
handelt. Und auch für diese Verkin gibt es ein reales Vorbild, in den
sozialen Medien finden sich Bilder von ihr zusammen mit David Wagner, sie
trägt hinreißend schneeweißes Haar.
Allerdings würde dieser Roman innerhalb der Autofiktion eher eine eigene
Spielart aufmachen, eine, die sich nicht in der Herkunft verbohrt und,
statt erlittene Traumata direkt anzugehen, um sie herumerzählt und so den
Aspekten nachspürt, in denen das Leben selbst literarisch wird. So hat es
David Wagner in seinen bisherigen Büchern („Meine nachtblaue Hose“, „Vier
Äpfel“, [2][„Leben“], [3][„Der vergessliche Riese“]) auch gemacht, n…
nie so ausgreifend in die Geschichte und die weltpolitische Situation wie
jetzt.
Begegnungen, Freundschaften, offen sein für sie – vielleicht, denkt man
beim Lesen dieses Buches, ist das wirklich der Stoff, aus der eine
gegenwärtige Literatur sich speisen kann.
19 Aug 2024
## LINKS
[1] /Vorwort-zu-Taksim-ist-ueberall/!5396295
[2] /Buchmessenpreis-an-David-Wagner/!5071303
[3] /David-Wagners-Der-vergessliche-Riese/!5616156
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Buch
Roman
Autofiktion
Türkei
Istanbul
Schwerpunkt AKP
Social-Auswahl
Roman
wochentaz
Opposition in der Türkei
Roman
David Wagner
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Roman „Air“ von Christian Kracht: Unter Helden
Christian Kracht entwirft in „Air“ eine fantastische Architektur am Rande
des Eismeers. Sein Ausflug in die Autofiktion scheint damit abgeschlossen.
Baden im Bosporus: Kopfüber ins Glück
Der Bosporus prägt Istanbuls Stadtbild, doch in ihm schwimmen tut kaum
jemand. Über eine verschworene Gemeinschaft, die den Sprung ins Wasser
wagt.
Buch über Nachwirken der Gezi-Proteste: Kunst ist kein Politikersatz
Rehabilitation des Kollektivs? Die Künstlerin Işıl Eğrikavuk beschreibt in
ihrem Buch, wie die Proteste in der Türkei 2013 in der Kunst fortleben
können.
Roman „Vaters Meer“ von Deniz Utlu: Unter der Wüste liegt das Meer 
Ein starkes Stück Prosa: Deniz Utlus Roman „Vaters Meer“ über einen
Hannoveraner Teenager und den Verlust seines Vaters ist ein literarisches
Meisterwerk.
David Wagners „Der vergessliche Riese“: Autobahn in die Vergangenheit
Von den Eltern erzählen heißt auch die Heimat der Kindheit erkunden. Ein
Roman über Gespräche und Reisen mit einem dementen Vater.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.