# taz.de -- Baden im Bosporus: Kopfüber ins Glück | |
> Der Bosporus prägt Istanbuls Stadtbild, doch in ihm schwimmen tut kaum | |
> jemand. Über eine verschworene Gemeinschaft, die den Sprung ins Wasser | |
> wagt. | |
Istanbul taz | Als sich die Osmanen daran machten, Konstantinopel zu | |
erobern, war ihr erster Schritt 1452 der Bau der Rumeli-Festung. Sie | |
wählten dafür die schmalste Stelle des Bosporus, der Meerenge, die zwei | |
Kontinente voneinander trennt, und die selbst hier noch 700 Meter breit | |
ist. | |
Die Festung hat die Jahrhunderte überdauert. Heute schlängelt sich eine | |
moderne Promenade zwischen ihr und dem Wasser entlang. Sie führt vorbei am | |
Fähranleger Aşiyan und an den dicht nebeneinander liegenden Jachten von | |
Bebek, dem reichsten Viertel Istanbuls, und bietet einen kilometerweiten | |
Blick hinüber zur asiatischen Seite der Stadt. Und natürlich auf den | |
Bosporus und die zahllosen Fähren, Containerschiffe, Jachten und | |
Fischerboote. | |
Samstagmorgens flanieren vor allem Leute mittleren Alters mit teuren | |
Laufschuhen auf der Promenade. Auch İnanç Kesinoğlu kommt auf seinem | |
täglichen Spazierweg hier vorbei. An diesem Oktobertag trägt der 49-Jährige | |
eine Jogginghose und Sportschuhe, ein Langarmshirt, eine Weste und eine Cap | |
auf der Glatze. Doch Kesinoğlu, der dank eines Wahlgeschenks der AKP | |
bereits in Rente ist, läuft die Promenade nicht nur entlang – manchmal | |
springt er auch von ihr ins Wasser. Direkt zwischen den großen Fähren und | |
dem kleinen Anleger für den öffentlichen Nahverkehr, der von der | |
europäischen zur asiatischen Seite der Stadt pendelt. | |
Eine gut ausgebaute Badestelle findet er hier allerdings nicht, nur eine | |
rostige Metalltreppe, die von der Promenade in die Meerenge führt. Obwohl | |
der Bosporus das Bild von Istanbul prägt und jede Menge Wasserfläche | |
bietet, gehört Schwimmen nicht zu den gängigen Freizeitbeschäftigungen in | |
der größten Stadt der Türkei. Vielen Istanbuler*innen ist der Bosporus | |
viel zu dreckig; sie verziehen skeptisch bis angeekelt das Gesicht, wenn | |
man auch nur davon spricht, dort zu schwimmen. | |
Und zugängliche Swimmingpools sind eine Seltenheit. Die meisten befinden | |
sich in auf privatem Grund, etwa in teuren Hotelanlagen oder als Teil der | |
unweit vom Fähranleger Aşiyan gelegenen [1][Boğaziçi-Universität], wo dann | |
nur Studierende, Angestellte und ihre Gäste Zugang haben. | |
## Nichts denken und nur schwimmen | |
Für İnanç Kesinoğlu aber gehört das Schwimmen im Bosporus zu Istanbul: „… | |
Bosporus ist für Istanbul das, was der Arc de Triomphe für Paris ist, für | |
London der Trafalgar Square oder für Brasilien die Jesusstatue“, sagt er. | |
„Es ist gut, hier Zeit zu verbringen, an nichts zu denken und nur zu | |
schwimmen. Für mich ist das Freiheit.“ | |
Seit mehr als drei Jahren schwimmt Kesinoğlu jede Woche am Fähranleger | |
Aşiyan. Während der Coronapandemie lief er täglich die Promenade entlang | |
und kam so in Kontakt mit anderen, die hier regelmäßig schwimmen. Im ersten | |
Pandemiejahr habe er sich nur mit ihnen unterhalten; seit Sommer 2021 | |
springt Kesinoğlu mit ihnen ins Wasser. | |
Etwa eine halbe Stunde nach Kesinoğlus Ankunft lassen sich auf der Bank | |
neben ihm drei Männer mit grauen Haaren nieder, die weniger in das | |
sportlich-schicke Erscheinungsbild der Bebeker Bevölkerung passen. Einer | |
trägt Jeans und T‑Shirt, ein anderer ein neongelbes übergroßes Sporttrikot | |
und der Dritte helle Jeans mit passender Jeansjacke. Er hat einen | |
Campingstuhl mitgebracht, auf dem er sich jetzt gemütlich mit einer | |
Zeitung niederlässt. Der Zweite gießt Tee aus einer Thermoskanne, und der | |
Erste verteilt Kekse. | |
Sie scherzen laut miteinander und breiten sich um die Bank herum aus. Auch | |
mit Kesinoğlu kommen sie ins Gespräch – sie kennen ihn, genau wie all die | |
anderen, die nach und nach eintrudeln. | |
Jeder wird den anderen mit Namen angekündigt: „Adem geldi!“, „Erkan | |
geldi!“, „Hakkı geldi!“ („… ist hergekommen“) ruft jeweils einer a… | |
Gruppe den anderen zu, noch bevor der Benannte vom Motorrad abgestiegen ist | |
oder die letzten Schritte zur Bank zurückgelegt hat. Eine aufgeregte | |
Stimmung macht sich breit: „Und, gehst du heute rein?“ „Wann sollen wir | |
springen?“ „Ach komm, so kalt ist es doch gar nicht!“ Necat Ersöz, der | |
Mann im Jeanszweiteiler, winkt von seinem Campingstuhl lachend ab: „Ich | |
bin doch nicht verrückt!“, ruft er. „Die anderen hier sind verrückt!“ A… | |
lachen. | |
Auch İnanç Kesinoğlu ist sich noch nicht sicher, ob er wirklich ins Wasser | |
springen wird. Die Sonne strahlt zwar, doch die herbstlichen Temperaturen | |
von 18 Grad Luft- und 19 Grad Wassertemperatur und der kühle Wind lassen | |
ihn etwas vor dem Schwimmen zurückschrecken. Aber die gegenseitige | |
Motivation hilft: „Ich bringe meist meine Tasche mit Badekleidung mit und | |
entscheide hier“, sagt Kesinoğlu. „Wenn ein Mutiger schon im Wasser ist, | |
macht das auch anderen Mut.“ | |
## Sprung mit dem Kopf voraus | |
Einer der Mutigen ist Hassan Kamiş. Er gehört zu den Ersten, die sich heute | |
in die Fluten trauen. Sieht man den 77-Jährigen in seiner grauen Anzughose | |
und dem Wollpullunder, erwartet man nicht, dass er kurz darauf | |
schnurstracks in Badehose die Promenade entlangläuft und direkt vom Beton | |
in den Bosporus springt. Mit dem Kopf voraus natürlich. Er schwimmt schon | |
seit 1989 an dieser Stelle. Früher ist er mit seiner Frau hergekommen, doch | |
die ist mittlerweile verstorben. | |
Inzwischen haben sich etwa neun Männer um die Bänke versammelt. Fünf davon | |
haben beschlossen, zusammen von der Promenade zu springen. Auch Kesinoğlu | |
konnten sie überreden. Nur in Badehose bekleidet laufen sie ein paar | |
hundert Meter Richtung Norden die Promenade entlang; vorbei an zwei großen | |
Fähren, an Anglern und Spaziergänger*innen. Langsam wird die Promenade | |
nicht mehr nur von den Ortsansässigen bevölkert, sondern auch von | |
Wochenendausflügler*innen, die mit der Metro oder der Fähre | |
hergekommen sind. Neugierig drehen sie sich nach den Männern um. | |
An einem Vorsprung warten die Schwimmer, bis die Angler ihre Angelschnüre | |
eingeholt haben. Dann springen sie, einer nach dem anderen, etwa zwei Meter | |
hinab ins Wasser und schwimmen schnell weg von den Betonwänden. Sofort | |
zieht die Strömung sie mit. Sie ist so stark, dass die Männer bequem im | |
Wasser liegen und sich fast ohne Schwimmbewegung schneller als die | |
Fußgänger*innen an Land zurück zur Treppe treiben lassen können. | |
Andere springen direkt dort ins Wasser und schwimmen ein paar Meter – gegen | |
die Strömung ist das gar nicht so leicht. Auch den vorbeifahrenden Fähren | |
kommen sie vom Ufer aus betrachtet gefährlich nah. Doch die Männer kennen | |
sich aus, und wenn sie zu weit hinausschwimmen, scheucht die | |
Wasserschutzpolizei sie schon mal zurück. | |
Viele der Männer kennen sich seit Jahrzehnten. Hakan Kaya etwa hat hier | |
vor 35 Jahren schwimmen gelernt. Der sportlich breit gebaute und eher | |
zurückhaltende Mann erzählt, wie er als Achtjähriger das erste Mal mit | |
seinem Bruder hier geschwommen sei. Er ist in der Nähe aufgewachsen und | |
auch seine Freunde waren oft zum Schwimmen hier. Heute besteht die Gruppe | |
größtenteils aus Männern zwischen 40 und 60. „Früher waren die Kinder | |
freier“, meint Kaya. Heute würden sie viel eher zu Hause sitzen. | |
Er aber bringt am Nachmittag auch seinen zehnjährigen Sohn mit. Alle seine | |
drei Kinder hätten hier schwimmen gelernt, schon mit drei Jahren. Für | |
Kinder sei es zwar noch schwerer, gegen die Strömung anzukommen – aber wenn | |
sie hier schwimmen lernen würden, könnten sie es überall, meint Hakan Kaya. | |
Und das angeblich so dreckige Wasser? Er winkt ab. „Das sauberste Wasser | |
von Istanbul ist hier“, sagt er. Durch die Strömung komme immer frisches | |
Wasser nach; da sei [2][das Marmarameer, in das Istanbuler*innen gern | |
von den Prinzeninseln aus springen, dreckiger]. | |
Dennoch sieht man so einiges an Müll an der Badestelle vorbeitreiben. Die | |
Männer haben deshalb eine Bürste versteckt, um die Treppe zu reinigen, und | |
wenn sie gerade schwimmen, fischen sie auch mal eine Plastiktüte oder | |
einen Angelhaken aus dem Wasser. | |
## Eine Flucht von Zuhause | |
Bei den herbstlichen Temperaturen geht Hakan Kayas Sohn allerdings nicht | |
mehr schwimmen. Auch für die Erwachsenen wird es im Laufe des Tages | |
ungemütlicher. Schon am frühen Nachmittag sorgen der Wind und der sich | |
zwischen den paar Bäumen ausbreitende Schatten für mehr Kühle. Die Männer | |
bleiben trotzdem. Für sie geht es nicht nur ums Schwimmen – sie haben auch | |
Freunde hier gefunden. | |
Dieser Ort ist für sie eine Flucht von Zuhause. İnanç Kesinoğlu nennt ihn | |
„Rehabilitationszentrum“. So kommen auch diejenigen, die im Winter nicht | |
mehr schwimmen, zur Badestelle, und wenn das Wetter allzu ungemütlich wird, | |
treffen sie sich eben nur auf einen Tee. Oder es wird ein Gaskocher | |
mitgebracht, Obst, Frühstück oder eine Pfanne für Fisch. | |
Von wo die Leute kommen, wie viel Geld sie haben oder was sie machen, | |
spielt dabei keine Rolle. „Es ist ein Mosaik an Leuten hier“, sagt | |
Kesinoğlu. „Alle Menschen sind willkommen. Dein Abschluss ist egal. Wenn du | |
gut schwimmst und lachen kannst, komm her.“ So sprechen, schwimmen, essen | |
und trinken hier Rentner mit Motorradverkäufern, Fabrikbesitzer mit | |
Kurieren. | |
Nur Frauen findet man kaum. Einige der Männer bringen zwar manchmal ihre | |
Ehefrauen mit, doch keine von ihnen schwimmt hier. Ein paar hundert Meter | |
weiter in Bebek gingen auch Frauen schwimmen, sagt Hakkı Karakan, ein | |
62-jähriger Rentner, der – wenn er nicht gerade schwimmt – gern mit | |
Campingstuhl und Buch im Gras hinter den Bänken sitzt. Andere erzählen, | |
dass auch an dieser Badestelle früher mehr Frauen ins Wasser gegangen | |
seien. Doch wären sie mittlerweile um die 80 Jahre alt oder bereits | |
verstorben. | |
Karakan vermutet, dass das auch etwas [3][mit der gesellschaftlichen | |
Veränderung in der Türkei] zu tun habe. Einige Männer seien dadurch Frauen | |
gegenüber distanzierter. „Das politische System hat das Denken der Leute | |
verändert“, sagt er. Er selbst kommt aber auch lieber ohne seine Frau her: | |
„Das ist für uns beide besser. Wenn ich den ganzen Tag zu Hause bleibe, | |
streiten wir uns nur“, sagt er und lacht. Er mache hier aber auch manchmal | |
ein Picknick mit seiner Frau. | |
Gegen 16 Uhr liegen die Bänke dank der tiefstehenden Herbstsonne im | |
Schatten. Nach und nach wird die Promenade leerer, genau wie die Stelle um | |
die rostige Treppe. „Was machen wir heute Abend? Wollen wir noch Fisch | |
essen?“, fragt İnanç Kesinoğlu in Richtung Hakan Kaya. „Wir haben für | |
heute nichts geplant“, antwortet der und schlägt dann vor: „Wir können das | |
morgen machen.“ | |
18 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jelena Malkowski | |
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