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# taz.de -- Massentourismus statt Idyll: Das Ende der Pferdeinseln
> Auf den Prinzeninseln vor Istanbul sollen die traditionellen
> Pferdekutschen verschwinden. Ein Sieg für den Tierschutz – aber auch ein
> großer Verlust.
Bild: Die Kutschen waren schon immer das Wahrzeichen der Inseln
Istanbul taz | Der zentrale Platz von Büyükada, der größten der neun
Prinzeninseln vor der Küste Istanbuls, liegt leer und verlassen in der
Wintersonne. Drei Pferdekutschen stehen am Rand, demontiert und verpackt,
um ans Festland gebracht zu werden. Nur ein Kutscher sitzt noch gelangweilt
im Fond seiner abgespannten Kutsche. Auf die Frage: „Wo sind die Pferde?“,
lacht er gequält und zeigt irgendwo in Richtung der Pferdeställe am anderen
Ende der Insel. „Sie schlafen“, sagt er. „Wann kommen sie zurück?“ „…
mehr, die Zeit der Pferde auf den Inseln ist vorbei“.
Noch vor wenigen Wochen bot der Kutschplatz von Büyükada ein malerisches
Bild. Rund um einen kleinen Holzturm, von dem aus die Kutschen per Megafon
dirigiert wurden, drängten sich an die hundert Gespanne, oft bunt
geschmückt, und warteten auf Kundschaft. Die Kutschen waren schon immer das
Wahrzeichen der Prinzeninseln. Außer ein paar Polizei- und
Feuerwehrfahrzeugen sind auf den Inseln keine Autos erlaubt. Stattdessen
wurden alle Transporte traditionell mit den Pferdekutschen erledigt.
Viele Bewohner der Inseln können es nicht fassen. Ungläubig schaut Ahmet,
der Besitzer einer Teestube, auf den sauber gewaschenen leeren
Kutschenplatz. „Ich kann es noch gar nicht glauben“, sagt er leise,
„Büyükada ohne Pferdekutschen, das ist doch undenkbar“.
Büyükada ist, wie schon ihr Name sagt (Große Insel), die größte der neun
Prinzeninseln, die von Istanbul aus mit dem Schiff in einer guten Stunde zu
erreichen sind. Die Prinzeninseln sind das beliebteste Naherholungsziel der
Istanbuler. Eine langsam in der Sonne dahinrollende Kutsche auf einer
schmalen, mit Platanen bestanden Gasse ist das Bild, dass jeder Istanbuler
mit den Prinzeninseln verbindet. „Schon wenn man eines der Fährschiffe
betritt“, schwärmte unsere Nachbarin immer, „beginnt der Kurzurlaub.“
## Refugium der Minderheiten
Vieles auf den Inseln vermittelte bis vor wenigen Jahren noch die
Atmosphäre des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es war eine ruhige heile Welt
der Kutschen, der in einem verspielten Art-déco-Stil errichteten
Holzvillen, der altmodischen Freibäder und des mondänen Ada-Clubs für die
Reichen und Schönen, die von Pera, dem europäischen Viertel Istanbuls, mit
der eigenen Jacht herüberkamen.
Besonders privilegierte Istanbuler Familien haben bis heute ein Ferienhaus
auf den Inseln. Die alten Holzvillen werden über Generationen vererbt und
gehören zu den Inseln wie der Wald und bislang die Pferde. Kamen die
Familien zur Sommerfrische, ließen sie sich zu ihrem Haus kutschieren und
später immer wieder ins Inseldorf bringen.
Viele Häuser gehörten Istanbuler Griechen, Armeniern und Juden. Die
Prinzeninseln waren und sind ein Refugium der nichtmuslimischen
Minderheiten. Alle Inseln haben griechische Namen. Büyükada ist Prinkipo,
die zweitgrößte, Heybeliada, ist Chalki, auf der das wichtigste griechische
Kloster Istanbuls steht.
Ihren europäischen Namen Prinzeninseln (im türkischen heißen sie einfach
„Adalar“, die Inseln) hat die Inselgruppe aus der Zeit des Byzantinischen
Reiches, als die Prinzen, die in der Thronfolge nicht zum Zuge kamen oder
ausgeschaltet werden sollten, auf die Inseln in eines der vielen Klöster
dort deportiert wurden. Es war ein feudaler Verbannungsort aus dem später,
im Osmanischen Reich, ein Fluchtpunkt der christlichen Minderheiten wurde.
Einer der prominentesten Flüchtlinge, der mehrere Jahre auf Büyükada im
Exil verbrachte, war Leon Trotzki, der sich dort vor der Verfolgung durch
Stalin vorläufig in Sicherheit gebracht hatte, bevor er später in Mexiko
ermordet wurde.
## Entdeckt von der Tourismusindustrie
Auch in den ersten Jahrzehnten der türkischen Republik blieben die Inseln
ein verwunschener Ort. Viele Griechen und Armenier waren im oder nach dem
Ersten Weltkrieg getötet oder vertrieben worden und die reichen Türken
bevorzugten den Bosporus und ein Sommerhaus am Mittelmeer.
Erst als der Fährverkehr in den 1960er und 1970er Jahren regelmäßiger und
häufiger wurde, mieteten sich auch mehr und mehr ordinäre Istanbuler für
den Sommer auf den Inseln ein. Doch während Istanbul von den 1960er Jahren
bis zur Jahrtausendwende von 1,5 Millionen auf 15 Millionen Einwohner ein
geradezu explosionsartiges Bevölkerungswachstum erlebte, blieb es auf den
Inseln ruhig. „Büyükada ist noch nicht wachgeküsst“, meinte ein Freund,
„die Baulobby und die Tourismusindustrie haben die Inseln noch nicht
richtig entdeckt.“
Das änderte sich vor gut zehn Jahren. Mit dem wachsenden Einkommen in
Istanbul wuchsen die Begehrlichkeiten auf Häuser und Grundstücke auf den
Inseln, und die wachsenden Touristenzahlen in der Stadt führten auch zu
immer mehr Tagesbesuchern auf Büyükada und Heybeliada, den beiden größten
Prinzeninseln.
Den Pferden wurde gerade der vermehrte Andrang zum Verhängnis. Die Anzahl
der Kutschen verzehnfachte sich in wenigen Jahren, aus der geruhsamen
romantischen Fahrt wurde ein Geschäft, bei dem möglichst viele Touristen in
möglichst kurzer Zeit um die Insel gekarrt wurden. Für die Pferde wurde das
zur Katastrophe. Gehetzt von ihren Kutschern, die längst nur mehr
Saisonarbeiter für große Kutschunternehmen waren, starben in den letzten
Jahren durchschnittlich 300 von 1.500 Pferden, die auf den Inseln im
Einsatz waren, in jeder Saison. Aus reiner Profitgier wurden sie gehetzt,
bis sie entkräftet zusammenbrachen oder in schwere Unfälle verwickelt
wurden. Sie wurden schlecht ernährt und schlecht gepflegt.
## Und die Tiere?
Völlig zu Recht schlugen immer mehr Tierschutzinitiativen Alarm. Als Ende
letzten Jahres auch noch eine Pferdeseuche ausbrach und über 80 Pferde
getötet werden mussten, zogen der neue Bezirksbürgermeister der Inseln, der
frühere Cumhuriyet-Journalist Emre Gül, [1][und der neue Istanbuler
Oberbürgermeister, Ekrem İmamoğlu], die Notbremse und verhängten eine
dreimonatige Zwangspause für alle Pferdekutschen.
Was zunächst von allen Inselbewohnern als sinnvolle Maßnahme akzeptiert
wurde, verwandelte sich in Unverständnis, als im Januar plötzlich verkündet
wurde, dass die Pferdekutschen komplett abgeschafft werden. Ab März sollen
nun elektrisch betriebene Vehikel, die aussehen wie größere Golfcars, die
Kutschen ersetzen. „Eine völlig intransparente und die Bewohner der Inseln
ignorierende Entscheidung“, kritisieren einige Insulaner per
Pressemitteilung diese Entwicklung. Für die Inseln geht damit eine Ära zu
Ende.
Ahmet, der Teestubenbesitzer am ehemaligen Kutschenplatz, hält das für
einen Pyrrhussieg der Tierschützer. „Wer weiß, was mit den arbeitslos
gewordenen Pferden nun passiert? Vielleicht landen sie alle im
Schlachthof“, meint er düster. Ohne die Pferde verlieren die Inseln
endgültig ihren Charakter, befürchtet Ahmet. „Die elektrischen Kleinbusse
werden den Massentourismus erst recht befeuern“, sagt er. „Sie können mehr
Menschen transportieren und [2][werden auch die letzten Ecken der Inseln
noch für den Tourismus] erschließen“.
13 Feb 2020
## LINKS
[1] /Interview-mit-CHP-Strategin/!5630534
[2] /Die-Tuerkei-plant-einen-Istanbul-Kanal/!5657824
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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Istanbul
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