# taz.de -- Die Türkei plant einen Istanbul-Kanal: Der zweite Bosporus | |
> Der Strand von Karaburun ist schön – noch. Denn das Dorf soll | |
> Ausgangspunkt für einen Kanal werden. Die Makler sind schon da. Proteste | |
> aber auch. | |
Bild: Noch eine Idylle: das Dorf Karaburun nordwestlich von Istanbul am Schwarz… | |
Karaburun sieht aus, wie ein Ferienort aussehen soll. Im kleinen Hafen | |
unterhalb der Ortschaft schaukeln ein paar bunte Fischerboote in der | |
Wintersonne, oben auf den Klippen stehen Kapitänshäuser und Ferienvillen. | |
Der Strand reicht bis an den Hafen heran und zieht sich dann kilometerweit | |
nach Osten. Es liegt ein bisschen zu viel Müll herum, aber der wird bis zu | |
Saisonbeginn eingesammelt sein. | |
Direkt am Hafen hat ein Fischrestaurant auch im Winter geöffnet und ist | |
durchaus gut besucht, was angesichts der abgelegenen Lage verwundert. Und | |
noch etwas macht stutzig. In dem kleinen Ort oberhalb der Klippen findet | |
sich eine massive Ansammlung von Maklerbüros. Sollte der Andrang auf die | |
Ferienhäuser unten am Strand tatsächlich so groß sein? | |
Natürlich nicht. Geht es nach dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip | |
Erdoğan, wird das idyllisch am Schwarzen Meer gelegene Karaburun im Zentrum | |
eines Projekts stehen, das alle bisherigen gigantischen Pläne des | |
Präsidenten in den Schatten stellen wird. Der Istanbul-Kanal, ein zweiter | |
Bosporus, soll das Meisterstück des bausüchtigen türkischen Präsidenten | |
werden, das er selbst einmal als das verrückte Projekt bezeichnete. Nicht | |
ganz so groß wie der Panamakanal, der den Atlantischen mit dem Pazifischen | |
Ozean verbindet, oder der Suezkanal, der vom Mittelmeer ins Rote Meer | |
führt, soll der Istanbul-Kanal das Schwarze Meer mit dem Marmarameer und so | |
mit dem Mittelmeer verbinden und dadurch die bislang einzige Verbindung | |
zwischen diesen Meeren, den berühmten Bosporus, vom Schiffsverkehr | |
entlasten. | |
Derzeit sucht Erdoğan noch nach Investoren für dieses mindestens 20 | |
Milliarden Dollar teure Projekt, doch er ist sich sicher, dass das Geld | |
schnell zusammenkommt. „Weltweit ist Kapital auf der Suche nach einer guten | |
Anlagemöglichkeit und der Istanbul-Kanal ist eine der besten“, meint der | |
Präsident. Noch in diesem Jahr würden die ersten Bagger rollen, kündigte er | |
erst kürzlich an. | |
## Großschifffahrt und Segelmarina statt Beschaulichkeit | |
Kann er sein Vorhaben durchsetzen, wird in Karaburun die Hölle los sein. | |
Denn hier, am ausgedehnten Sandstrand östlich des Städtchens, ist geplant, | |
dass der Kanal ins Schwarze Meer mündet. Eingerahmt wird dieser Eingang | |
dann mit Liegeplätzen für die Großschifffahrt. Logistikunternehmen sollen | |
einen großen Umschlagplatz bekommen und auf der östlichen Seite der Mündung | |
ist eine Segel-Marina geplant. Mit dem gigantischen Aushub des Kanals | |
sollen vor der Mündung nach dem Vorbild von Dubai künstliche Inseln im | |
Schwarzen Meer angelegt werden. Karaburun wird nicht wiederzuerkennen sein. | |
Der Besitzer des Fischrestaurants am Hafen schwankt zwischen der Hoffnung, | |
er könne hier in Zukunft das ganz große Geschäft machen, und der | |
Befürchtung, sein Laden würde die jahrelange Bauzeit nicht überstehen. | |
„Vielleicht gibt es uns dann gar nicht mehr“, sagt er etwas zweifelnd an | |
der rosigen Zukunft, die der Präsident malt. | |
Zweifel an dem Projekt haben auch viele andere, angefangen vom neuen | |
oppositionellen Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, der in der | |
Ablehnung des Projekts eine breite Mehrheit der Istanbuler BügerInnen | |
hinter sich weiß, bis hin zu vielen Experten, die in dem Kanal ein hohes | |
geologisches und ökologisches Risiko sehen. | |
Insbesondere die Meeresbiologen schlagen Alarm. Cemal Saydam, der | |
bekannteste türkische Meeresforscher von der Hacettepe-Universität in | |
Ankara, sagt: „Der Kanal wäre ein Desaster. Wenn er gebaut wird, wird das | |
Marmarameer über kurz oder lang zu einem toten Gewässer.“ Das Meer würde im | |
wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinken und der Geruch nach faulen | |
Eiern das Leben an seinen Ufern unerträglich machen. | |
„Das ist nicht ein mögliches Ergebnis, sondern es wird definitiv passieren, | |
darin sind sich alle Maritim-Experten weltweit einig“, sagt Saydam. Dabei | |
sei das Marmarameer schon jetzt besonders sauerstoffarm, weil nur über die | |
Dardanellen sauberes Wasser aus der Ägäis dorthin fließt, erklärt der | |
Meeresbiologe. Aus dem Schwarzen Meer komme überwiegend sauerstoffarmes und | |
schmutziges Wasser durch den Bosporus. Kommt der Kanal dazu, würde das | |
Marmarameer unweigerlich umkippen und zu einer Kloake werden. Selbst wenn | |
man den Kanal später wieder schlösse, sei das Desaster nicht | |
wiedergutzumachen. „Bis das Marmarameer sich erholt, würde es mindestens | |
20.000 Jahre dauern“, sagt Saydam. | |
Während das Umweltministerium in Ankara diese Gefahr ignoriert, ist die | |
Istanbuler Stadtverwaltung aufs Höchste alarmiert. İlayda Koçoğlu, eine | |
junge Frau aus dem Team von Oberbürgermeister Imamoğlu, bekräftigt die | |
Ablehnung des Kanalprojekts: „Entweder der Kanal oder Istanbul. Der Kanal | |
ist eine existenzielle Bedrohung für die Stadt“, sagt sie. Nicht nur würde | |
das Marmarameer sterben, schon vorher käme es für viele Istanbuler zu einem | |
Trinkwasser-Notstand. Der Kanal würde nicht nur wichtige | |
Trinkwasserreservoirs der 15-Millionen-Einwohner-Stadt zerstören, das | |
Projekt schneidet die Stadt auch von weiter westlich gelegenen Staudämmen | |
ab. Rund 50 Prozent des Trinkwassers für den europäischen Teil Istanbuls, | |
wo zwei Drittel der Stadtbewohner leben, seien bedroht, so die Befürchtung. | |
Die Gefährdung des Trinkwassers ergibt sich aus der Route, die der Kanal | |
nehmen soll. Von seinem Ausgangspunkt am Schwarzen Meer führt die | |
künstliche Wasserstraße zunächst durch eine hügelige Kulturlandschaft, die | |
seit Jahrhunderten für Landwirtschaft und Viehzucht genutzt wird und die | |
Stadt mit Agrarprodukten versorgt. Dabei passiert er den Terkos-See, eines | |
der wichtigsten Trinkwasserreservoirs, dem durch den Kanal die Versalzung | |
droht. Im weiteren Verlauf soll der Kanal dann direkt durch die | |
Sazlıdere-Talsperre, die ebenfalls Istanbul mit Wasser versorgt, geführt | |
werden. Hinter dem Küçükçekmece-See endet der Kanal im Marmarameer. | |
Auf dem Weg vom Schwarzen Meer zum Sazlıdere-Staudamm liegt zwischen grünen | |
Hügeln das kleine Dorf Baklali. Am Nachmittag ist das Teehaus gut besucht, | |
vor allem jetzt im Winter, wo auf dem Feldern nicht so viel zu tun ist. Auf | |
die Frage nach dem Kanalprojekt ruft der Teehausbesitzer gleich Yussuf an | |
den Tisch. | |
Der Mann ist so etwas wie der Sprecher des Dorfs, wenn es um Erdoğans | |
Großprojekt geht. „Das Dorf ist geschlossen gegen den Kanal“, sagt Yussuf, | |
der seinen Nachnamen nicht nennen will. „Wenn der gebaut wird, ist hier | |
alles weg. Kein Haus bleibt übrig, die Weiden und unser Vieh verschwinden.“ | |
„Wir sind Bauern. Wir wollen unser Land und unser Dorf nicht verlieren.“ | |
Yussuf ist vielleicht Mitte 30. „Ich will nicht in irgendeiner Fabrik in | |
Istanbul enden“, sagt er aufgebracht. Es soll zwar eine Entschädigung | |
geben, doch „die reicht nicht, um anderswo Land zu kaufen. Wir wollen aber | |
nicht als Hilfsarbeiter in einer Fabrik schuften, wir sind seit | |
Generationen Bauern und wir wollen das bleiben“, bekräftigt er. | |
Wie alle in der Region Istanbul weiß auch Yussuf, dass sich einige Menschen | |
mit dem Kanal eine goldene Nase verdienen wollen. Zornig wirft er ein paar | |
Visitenkarten von Maklerbüros aus der Umgebung auf den Tisch. „Alle wollen | |
jetzt als Makler schnelles Geld verdienen“, empört er sich. „Die versuchen, | |
die gesamten Dörfer entlang der Kanalstrecke aufzukaufen.“ | |
Doch auch Yussuf hat natürlich längst mitbekommen, dass die Makler vor Ort | |
nur kleine Fische sind. „Den großen Profit werden andere machen“, sagt er. | |
Wer? „Großinvestoren aus den Golfstaaten und andere Kumpels von Erdoğan.“ | |
Jüngst war bekannt geworden, dass die Familie des Scheichs von Katar, Tamim | |
bin Hamad al-Thani, einem engen Verbündeten Erdoğans, sich in der | |
Kanalregion großflächig eingekauft hat, noch bevor die Pläne öffentlich | |
wurden und das Land noch billig war. Vor wenigen Tagen enthüllte die | |
Tageszeitung Cumhuriyet, dass Berat Albayrak, Finanzminister und | |
Schwiegersohn des Präsidenten, sich ebenfalls bedient hat. Der Anwalt des | |
Finanzministers sagt dazu: „Berat Albayrak wollte verhindern, dass das | |
ganze Land von Ausländern aufgekauft wird.“ Aber nicht nur Freunde und | |
Bekannte des Präsidenten haben sich mit Land am Kanal versorgt. Auch große | |
Konzerne wie Koc und Sabance, die der Regierung nicht unbedingt nahestehen, | |
haben dort investiert. | |
Offiziell spielt die Immobilienspekulation für die Begründung des Projekts | |
keine Rolle. Mitte Januar pries Verkehrs- und Transportminister Cahit | |
Turhan vor der versammelten türkischen Presse das „Jahrhundertprojekt“ in | |
den höchsten Tönen und versuchte, den Kritikern den Wind aus den Segeln zu | |
nehmen. „Bis 2035 werden 50.000 Schiffe im Jahr den Kanal passieren und so | |
mehr als eine Milliarde Dollar im Jahr in die Staatskassen spülen“, sagte | |
Turhan. Bis 2050 rechne er gar mit 70.000 Schiffen pro Jahr. Das | |
Kanalprojekt werde das Wachstum der türkischen Wirtschaft insgesamt | |
beflügeln und Tausende Arbeitsplätze schaffen. Zudem würde durch den Kanal | |
der Bosporus von gefährlichen Transporten entlastet und die Gefahr eines | |
Tankerunfalls mitten in Istanbul abgewendet. Die Wasserstraße werde deshalb | |
auch aus ökologischen Gründen ein Segen für Istanbul sein. | |
Kritiker sehen das anders. Sie rechnen vor, dass sich die Erwartungen der | |
Regierung auch bei anderen privat finanzierten öffentlichen Bauten wie der | |
dritten Brücke über den Bosporus nicht erfüllt haben und der Staat nun | |
jährlich Millionenbeträge an die Betreiberfirmen zahlen muss, damit diese | |
ihre Garantiesummen einstreichen können. Sie belegen, dass der | |
Schiffsverkehr auf dem Bosporus rückläufig ist, und fragen, warum überhaupt | |
eine Reederei für die Kanalpassage bezahlen sollte, wo die Durchfahrt durch | |
den Bosporus doch kostenlos ist. | |
Die Regierung antwortet, dass die Reedereien im Gegenteil bei Nutzung der | |
neuen Passage Geld sparen würden, weil es für die Kanalpassage keine langen | |
Wartezeiten wie beim Bosporus geben werde und außerdem das Risiko, für | |
Unfallkosten auf dem Bosporus aufkommen zu müssen, entfallen würde. Zu den | |
Umweltrisiken hat der zuständige Minister Murat Kurum eine eindeutige | |
Antwort. Mehr als 100.000 Einwendungen Istanbuler Bürger ließ er pauschal | |
als unbegründet ablehnen. Die Umweltrisiken seien geprüft worden, der Kanal | |
sei sicher. | |
## Die Angst vor dem Erdbeben | |
Doch viele Istanbuler wollen ihm nicht glauben. An einem kalten | |
regnerischen Samstag im Januar beginnt in Avcılar, dem Istanbuler | |
Stadtteil, der an der Mündung des Kanals ins Marmarameer liegen würde, eine | |
erste Demonstration gegen das Projekt. Trotz Nieselregen folgten mehrere | |
hundert BürgerInnen dem Aufruf eines Bürgerforums und beteiligten sich an | |
einer Menschenkette entlang des Sees. Unter ihnen befinden sich viele | |
Familien, die neben den ökologischen Risiken auch die Angst vor einem | |
großen Erdbeben umtreibt, das durch die Kanalarbeiten ausgelöst werden | |
könnte. | |
Ayse Firincioğlu, eine 16-jährige Schülerin, hält ein Schild in die Höhe: | |
„Für euren Profit zerstört ihr unser Leben.“ Aufgeregt erzählt sie, warum | |
sie vor dem Kanal Angst hat. Die Marmara-Region im Westen Istanbuls ist die | |
am meisten durch Erdbeben gefährdete Region der gesamten Türkei, hier | |
befürchten alle das große Jahrhundertbeben, das seit Langem angekündigt | |
ist. „Wie können die nur so mit unserem Leben spielen“, empört sich Ayse. | |
Millionen Istanbuler haben in Umfragen signalisiert, dass sie den Bau des | |
Kanals ablehnen. Bürgermeister Imamoğlu hat ein Referendum ins Spiel | |
gebracht. Er will das Kanalprojekt zu einem zentralen Konfliktpunkt mit der | |
Regierung machen. Wissenschaftler wie Cemal Saydam und viele andere | |
veröffentlichen vernichtende Expertisen. Doch der starke Mann der Türkei, | |
Recep Tayyip Erdoğan, gibt sich weiter siegesgewiss: „Ihr könnt sagen, was | |
ihr wollt“, lässt er die Istanbuler wissen, „der Kanal wird gebaut!“ | |
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu entgegnet darauf: Bis der Baubeginn | |
anstehe, sei der Präsident längst abgewählt. Er warnt potenzielle | |
Investoren: „Sie werden Ihr Geld nicht wiedersehen.“ | |
3 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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