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# taz.de -- Nach der Kommunalwahl: Istanbul macht endlich Ferien
> Nach dem Sieg des Oppositionspolitikers İmamoğlu atmet die Stadt auf.
> Viele sind so entspannt, dass ein Schachzug Erdoğans fast unbemerkt
> bleibt.
Bild: Sommer in Istanbul: Nach den Wirrungen um die Kommunalwahl entspannen sic…
ISTANBUL taz | „Wie geht es dir?“ Daumen hoch, ein Lachen. „Ach ja,
natürlich“. Was gibt es da zu fragen. „Es geht mir so gut wie schon lange
nicht mehr“. Wo immer man in diesen Tagen in Istanbul Bekannte trifft, es
ist immer der gleiche Dialog. „Dass ich das noch erleben durfte“, stöhnt
ein Freund wohlig, „ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, in Istanbul
jemals wieder frei atmen zu können“. Es ist, als sei die Metropole am
Bosporus aus einem jahrelangen Alptraum erwacht.
Selbst Leute, die sich in der Vergangenheit im besten Fall ignoriert
hätten, gehen plötzlich freundlich miteinander um. Als in der U-Bahn ein
langhaariger Jüngling seine Gitarre auspackt und einen fetzigen Rocksong
vom Stapel lässt, steht eine vollverschleierte ältere Dame auf, geht zu ihm
hin und legt ihm zehn Lira in seine Sammelbox. „Mal was anderes hören als
zu Hause, ist doch auch ganz nett“, sagt sie anschließend lächelnd zu ihrer
Sitznachbarin.
Seit am letzten Sonntag im zweiten Anlauf [1][der Oppositionspolitiker
Ekrem İmamoğlu mit einem überwältigenden Wahlsieg] zum Oberbürgermeister
gewählt wurde, hat sich die Stadt schlagartig verändert.
„Die Liebe hat über den Hass gesiegt“, versuchte İmamoğlu während seiner
Siegesfeier Sonntagnacht etwas esoterisch verquast zu erklären, was in der
Stadt passiert ist. Tatsächlich gehen die Menschen freundlicher miteinander
um. Die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Wahlkampf immer wieder
hochgeputschte Hass-Rhetorik „Wir gegen die Anderen“, die ständigen
Angriffe auf angebliche „Verräter“ und „Terroristen“ waren selbst die
AKP-Wähler so Leid, dass Hunderttausende von ihnen den sanfteren İmamoğlu
gewählt haben.
## Erdoğans erster Schachzug
Am Donnerstag erhielt İmamoğlu dann seine Ernennungsurkunde als
Bürgermeister. Was im April, als die Wahl angefochten wurde, noch eine
Sensation war, lief jetzt bereits wie nach einer bekannten Dramaturgie ab,
einschließlich der Feier vor dem Rathaus. Dabei entging den meisten aber,
dass Erdoğan, nachdem er zunächst das Wahlergebnis vom Sonntag anerkannte,
bereits seinen ersten Zug im Kampf gegen İmamoğlu gemacht hat.
Nur drei Tage nach der Wahl unterzeichnete er ein Dekret des
Innenministers, durch das die Befugnisse aller türkischen Bürgermeister in
einem wichtigen Punkt eingeschränkt werden. Sie sollen nicht mehr die Chefs
der städtischen Unternehmen – der Müllabfuhr, der Parks, der städtischen
Theater und Museen – ernennen dürfen. Über die Stellenbesetzungen soll
zukünftig nur noch die Mehrheit des Stadtparlaments entscheiden.
Was sich so demokratisch anhört, hat einen klaren machtpolitischen
Hintergrund. Über die städtischen Unternehmen wird viel Geld verteilt,
bislang an AKP nahe Firmen. Damit das so bleibt, entscheidet nun in
Istanbul das nach wie vor von der AKP dominierte Stadtparlament.
## Die angenehmen Dinge des Lebens
Doch das interessiert im Moment kaum jemanden. Die Politik macht jetzt erst
einmal Pause. Es ist drückend heiß in Istanbul und das Meer wartet. Viele
Menschen waren nur noch wegen der Wahl in der Stadt geblieben, und haben
jetzt das Gefühl, sich endlich wieder den angenehmen Dingen des Lebens
zuwenden zu können.
In der Türkei bleiben die Schulen ab Mitte Juni bis Mitte September für
drei Monate geschlossen. Deshalb machen sich viele Familien auf, um den
Sommer entweder in den Dörfern zu verbringen, aus denen sie oder ihre
Eltern einst nach Istanbul ausgewandert sind, oder aber sie beziehen das
Sommerhaus der Familie, das meistens an der Ägäisküste steht.
Autos werden beladen, Nachbarn wünschen sich „İyi yazlar“, also einen
schönen Sommer, und langsam leert sich die Stadt. Aber auch diejenigen, die
zurückbleiben, wirken glücklich wie schon lange nicht mehr. „Du stehst kaum
noch im Stau und die Stadtstrände am Marmarameer sind auch gar nicht so
schlecht“, erzählt ein völlig relaxter Bekannter im Café, wo man jetzt auch
immer einen Platz findet, um in Ruhe seine Zeitung zu lesen. Mindestens bis
Mitte September sollte das augenblickliche Glücksgefühl anhalten.
28 Jun 2019
## LINKS
[1] /Wahlsieg-in-Istanbul/!5602388&s=istanbul/
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Türkei
Kommunalwahlen Türkei
Istanbul
Recep Tayyip Erdoğan
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