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# taz.de -- Wahlsieg in Istanbul: Istancool
> Der Erdrutschsieg begeistert die Opposition. Er ist zugleich ein
> Menetekel für Recep Tayyip Erdoğan. Neigt sich seine Herrschaft langsam
> dem Ende zu?
Bild: Der Wahlsieger: Ekrem İmamoğlu vor einer riesigen Menschenmenge in Ista…
Istanbul taz | Es ist der größte Menschenauflauf, den der Istanbuler Vorort
Beylikdüzü je gesehen hat. Nur aus der Hubschrauberperspektive ist die
Masse überhaupt zu erfassen. Am Sonntagabend feiert hier der bisherige
Bezirksbürgermeister von Beylikdüzü und neuer Oberbürgermeister von
Istanbul, Ekrem İmamoğlu, seinen Wahlsieg.
Am Kopfende des Hauptplatzes steht er gemeinsam mit seiner Frau Dilek auf
dem Dach des Busses, mit dem er seit Wochen durch Istanbul getourt ist, und
weiß nicht mehr, was er noch sagen soll. Die Freude über den Sieg, die
Betonung darauf, sich jetzt verantwortlich zu verhalten, die Verheißungen
über die lichte Zukunft für die Bürger der Stadt, alles ist schon mehrfach
gesagt worden. Doch die Menschen bewegten sich keinen Zentimeter vom Platz
weg und wollen alles immer noch einmal hören.
Heiser und sichtlich verausgabt macht „Ekrem Abi“ (Großer Bruder), wie
İmamoğlu hier von allen genannt wird, einen neuen Anlauf. „Diese Wahlnacht
ist nicht nur ein grandioser Sieg für die Menschen von Istanbul“, ruft er,
„es ist ein Neuanfang für Istanbul und die gesamte Türkei.“ Noch einmal
verneigt sich der 49-Jährige vor seinem Publikum. „Ihr habt an die
Demokratie geglaubt und nicht aufgegeben, jetzt ist die Demokratie in der
Türkei zurück.“
Die Menschen strahlen und genießen jedes Wort von İmamoğlu. Die meisten
sind so erschöpft wie ihr Idol, denn sie alle haben nervenaufreibende
Wochen hinter sich. Zuerst der kaum für möglich gehaltene knappe
[1][Wahlsieg am 31. März]. Dann das wochenlange Hinauszögern der
Anerkennung dieses Siegs durch die Regierung von Präsident Recep Tayyip
Erdoğan. Dann die Nachzählungen, die Nächte, die İmamoğlus Anhänger in den
Schulen verbrachten, wo die Wahlsäcke mit den abgegebenen Stimmen von ihnen
Tag und Nacht bewacht wurden, damit niemand sie austauschen konnte.
Schließlich, nach dem trotz aller Nachzählungen der Vorsprung İmamoğlus
einfach nicht verschwinden wollte, die Bestätigung seines Siegs durch die
Wahlkommission, die Übergabe der Ernennungsurkunde als Bürgermeister.
## Ein Wechselbad der Gefühle endet mit purer Freude
Die Freude auf den Straßen, der spontane Jubel in der U-Bahn, um nur 18
Tage später die tiefe Enttäuschung erleben zu müssen, als die
Wahlkommission auf massiven Druck des Präsidenten hin İmamoğlus Wahlsieg
mit fadenscheinigen Argumenten annullierte und eine Neuwahl ansetzte. Doch
aus Frust wurde Wut, aus Wut Engagement und eine erneute Wahlkampagne
İmamoğlus, wie die Türkei sie lange nicht mehr erlebt hat.
Aus diesem [2][Wechselbad der Gefühle] ist nun grenzenlose Erleichterung
geworden. Es hat geklappt, trotz allem. Der Wahlsieger und seine Anhänger
müssen sich immer wieder versichern, dass wirklich Realität ist, was an
diesem Wahlsonntag geschah.
Denn die Opposition hat nicht nur gewonnen. İmamoğlu hat geradezu einen
Erdrutschsieg eingefahren. Zwanzig von 31 Istanbuler Bezirken hat die
Opposition geholt, darunter Hochburgen der AKP wie Fatih oder den
Heimatbezirk von Erdoğan, Üsküdar. Der Abstand zwischen dem AKP-Kandidaten
Binali Yıldırım und Ekrem İmamoğlu ist nach dem vorläufigen Endergebnis v…
13.000 Stimmen Ende März auf unglaubliche 810.000 Stimmen gewachsen, das
sind 54 gegen 45 Prozent. Die Wahlbeteiligung ist in die Höhe geschossen,
8,7 von 10,5 Millionen Wahlberechtigten sind zu den Urnen gegangen.
Niemand hat mit einem solchen Vorsprung für İmamoğlu gerechnet, am
wenigsten wohl die Regierungspartei und ihre Lautsprecher in den Medien.
## Das Eingeständnis der Niederlage
Die Schlüsselszene dieser Wahlnacht in der 16-Millionen-Metropole ist schon
um 19.20 Uhr mit Erstaunen zu erblicken, nur knapp zweieinhalb Stunden nach
Schließung der Wahllokale. Bis dahin sind all die lange vorbereiteten
Grafiken auf den Fernsehkanälen leer geblieben. Auch Anadolu Ajansi, die
staatliche Nachrichtenagentur mit Hang zu Jubelzahlen für die Regierenden,
bleibt stumm wie ein Fisch. Die ersten Resultate für den
Regierungskandidaten Binali Yıldırım sind offenbar so miserabel, dass man
lieber gar nichts sendet. Erst Binali Yıldırım selbst nimmt dann die
Entscheidung in die Hand.
In seiner unnachahmlichen, umständlichen Sprechweise gibt er um zwanzig
nach sieben bekannt, dass Ekrem İmamoğlu mit großem Vorsprung führt und die
Wahl wohl gewonnen hat. Yıldırıms Statement beendete den Wahlabend, bevor
der überhaupt richtig beginnen kann.
Es dauert noch ein paar Stunden, bis Erdoğan dem Sieger gratuliert. „Der
nationale Wille hat sich heute einmal mehr gezeigt“, schreibt der
Präsident. „Ich gratuliere Ekrem İmamoğlu.“ Viele AKP-Mitglieder werden …
Interesse verfolgt haben, dass der Erdrutschsieg für İmamoğlu nach Meinung
ihres Vorsitzenden der „nationale Wille“ ist.
## Der größte politische Fehler von Erdogan
Tatsächlich war es das Ergebnis des größten politischen Fehlers Erdoğans,
seit er vor 17 Jahren mit seiner AKP die Macht in der Türkei erobert hat.
„In der Nacht zum 6. Mai, als die zentrale Wahlkommission auf seinen Druck
hin den Wahlerfolg von İmamoğlu annullierte, war das Ergebnis der
Wiederholungswahl praktisch schon klar“, schreibt am Montag der
Hürriyet-Kommentator Serkan Demirtaş. „Dieser Angriff auf das Gewissen und
das Gerechtigkeitsgefühl der Wähler, auch vieler AKP-Wähler, hat die
Zustimmung für İmamoğlu so enorm in die Höhe getrieben.“
Wie konnte Erdoğan diesen Fehler machen? Jahrelang gehörte es zu seinem
Markenzeichen, dass er den „Puls des Wählers“ fühlen konnte und in seinen
unzähligen Wahlkampagnen den Leuten sagen konnte, was sie hören wollten.
„In seinem Palast hat er den Kontakt zur Bevölkerung verloren“, sagt dazu
ein AKP-Funktionär, der anonym bleiben will. „Hoffentlich hat der Präsident
den Schuss von Istanbul jetzt gehört.“
Doch daran bestehen berechtigte Zweifel. Die Menschen wollen Versöhnung und
nicht andauernd gegeneinander aufgehetzt werden, sind sich fast alle
Kommentatoren einig. Auch um die lahmende türkische Wirtschaft wieder in
Schwung zu bringen, wäre eine innenpolitische Deeskalation eine erste
Voraussetzung.
Erdoğans Politik lebt von der Konfrontation. Schon immer, wenn es für ihn
eng zu werden drohte, hat er auf Angriff geschaltet, seine politischen
Gegner als „Terroristen“ oder „Verräter“ denunziert und damit seine
Wählerschaft erfolgreich mobilisiert. Das ist ihm nun erstmals nicht mehr
gelungen. Auf Erdoğan kommen schwere Zeiten zu.
## In der Partei des Präsidenten gärt es
Innerhalb seiner AKP gärt es. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass
sich rund um den ehemaligen Präsidenten Abdullah Gül, den früheren
Wirtschafts- und Finanzminister Ali Babacan und den früheren
Ministerpräsidenten Ahmed Davutoğlu eine Gruppe gebildet hat, die über die
Gründung einer neuen konservativen, aber liberaleren Partei als der AKP
Erdoğans nachdenkt. „Nach der Sommerpause wird die neue Partei an die
Öffentlichkeit gehen“, ist sich ein AKP-Funktionär, der die Beteiligten
kennt, sicher. Nach diesem Wahlergebnis erst recht.
Die Niederlage in Istanbul wischt erstmals die Angst fort, mit deren Hilfe
Erdoğan alle seine Kritiker seiner Politik wie seiner Person unterdrückt
hat. Das betrifft nicht nur die Opposition, sondern auch die eigene Partei.
Die miserable Wirtschaftslage und die schweren Probleme des vom Präsidenten
so gewollten Präsidialsystems machen seinen innerparteilichen Kritikern
zusätzlichen Mut.
Hinzu kommt, dass der Präsident sein Land in eine schier ausweglose
außenpolitische Lage geführt hat, in deren Folge die Wirtschaft der Türkei
endgültig kollabieren könnte. Der Kauf der russischen Raketenabwehrsysteme
S-400 hat die amerikanischen Nato-Verbündeten gegen Erdoğan aufgebracht.
Sollten die S-400 wie geplant im Juli geliefert werden, drohen US-Kongress
und Präsident Donald Trump mit Wirtschaftssanktionen. Alleine die Aussicht
darauf hat in den letzten Monaten ausgereicht, dass die türkische Lira
konstant an Wert verlor.
Ende dieser Woche will Erdoğan am Rande des G20-Gipfels in Japan sowohl mit
Donald Trump als auch dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nach einer
Lösung suchen. Gelingt ihm das nicht, werden die US-Sanktionen
voraussichtlich im Juli in Kraft treten.
Erdoğan ist erst im letzten Jahr für fünf Jahre als Präsident gewählt
worden, die nächsten regulären Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
stehen erst für 2023 an. Doch darauf kann sich der Präsident nicht mehr
verlassen. Sollte in diesem Herbst eine konservative Konkurrenzpartei
gegründet werden, ist davon auszugehen,dass eine größere Anzahl
AKP-Abgeordneter überläuft. Dann verlöre Erdoğan womöglich seine Mehrheit
im Parlament. Gegen die Volksvertretung zu regieren ist zwar möglich, aber
schwierig. Der Präsident müsste neue Koalitionen schmieden, aber seine
Alleinherrschaft wäre allemal beendet.
Möglich, dass es dann zu vorgezogenen Wahlen kommt. Sicher ist am Tag nach
dem Erdrutschsieg der Opposition in Istanbul aber eins. Nach der
Dauerdepression der Opposition und Siegen ohne Ende für Erdoğan kommen nun
turbulente Zeiten auf den konservativ-islamischen Präsidenten zu. Die
Vorboten sind in der Nacht zum Montag für jeden sichtbar, als Zehntausende
in den Straßen Istanbuls feiern.
24 Jun 2019
## LINKS
[1] /Opposition-gewinnt-Wahl-in-Istanbul/!5605032
[2] /Kommentar-Tuerkische-Kommunalwahlen/!5605047
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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