# taz.de -- Interview mit CHP-Strategin: Eine Frau gegen das Ein-Mann-Regime | |
> Canan Kaftancıoğlu ist Architektin des Istanbuler Wahlsiegs. Sie wurde | |
> wegen Tweets zu zehn Jahren Haft verurteilt. taz gazete hat sie in Berlin | |
> getroffen. | |
Bild: Canan Kaftancıoğlu sagt: „Dieser einzelne Mann hat den jungen Mensche… | |
Taz gazete: Frau Kaftancıoğlu, als eine der Architektinnen des Istanbuler | |
Wahlsieges der CHP wurden Sie Anfang September zu einer zehnjährigen | |
Haftstrafe verurteilt. Grundlage waren alte Tweets. Ist das Urteil eine | |
Racheaktion? | |
Canan Kaftancıoğlu: Das Urteil zeigt, an welchen Tiefpunkt die türkische | |
Justiz gebracht worden ist. Ich sehe es nicht als eine persönliche Strafe, | |
sondern als Bestrafung aller Menschen an, die sich in der Türkei für | |
Grundrechte und Freiheiten einsetzen und den Mut haben, auszusprechen, was | |
sie von der Regierung halten. Sobald ich mich Anfang 2018 entschlossen | |
hatte, Provinzvorsitzende der Istanbuler CHP zu werden, wurde ein | |
polizeiliches Führungszeugnis über mich angefertigt – ich weiß nicht, warum | |
– und meine Social-Media-Profile wurden durchforstet. Es begann eine | |
Hasskampagne gegen mich. Zwei Tage nach meiner Wahl sagte Erdoğan in einer | |
AKP-Fraktionssitzung wörtlich: „Dafür werden sie büßen.“ Am Tag darauf | |
begannen die Ermittlungen. Da Erdoğan die Präsidentenwahl gegen Muharrem | |
İnce gewann, geschah erst einmal nichts. Als im Mai die Istanbuler | |
Bürgermeisterwahlen annulliert wurden, kam umgehend die Anklageschrift. | |
Konnten Sie sich verteidigen? | |
All unsere Beweisanträge wurden abgeschmettert. Wir konnten nicht einmal | |
zeigen, dass manche der Tweets gar nicht von mir stammten oder ich einen | |
inkriminierten Satz bei einer Fernseh-Talkshow in Wirklichkeit nie gesagt | |
hatte. Zwei Minuten nach unserem letzten Wort vor Gericht rief der | |
Staatsanwalt sein fertiges Plädoyer von einem USB-Stick ab. Wir sagen: Das | |
war kein Justizverfahren, sondern juridisches Engineering. | |
Wie läuft es mit Ekrem İmamoğlu, dem neuen Istanbuler Oberbürgermeister? | |
Sind Sie zufrieden? | |
Ekrem İmamoğlu hat im Wahlkampf gesagt: Wir brauchen mittelfristige und | |
langfristige Projekte, um die Stadt und die in ihr lebenden Menschen zu | |
schützen. Spektakuläre Schnellschüsse bringen uns nicht weiter. Aber in den | |
ersten 100 Tagen haben wir dafür gesorgt, dass die Wasserrechnungen | |
billiger wurden und Schüler*innen und Studierende weniger für den | |
öffentlichen Nahverkehr zahlen müssen. Wir haben mit dem Bau von elf neuen | |
Kitas begonnen. Mit diesen kleinen Veränderungen fängt es an, und die | |
Menschen sehen das. | |
In den deutschen Medien wurde die Wahl İmamoğlus häufig als Anfang vom Ende | |
Erdoğans aufgefasst. Ist da etwas dran? | |
Ich freue mich, dass man das in der deutschen Öffentlichkeit so sieht. | |
Ein-Mann-Regime haben ja ohnehin eine eingeschränkte Lebensdauer. Das gilt | |
nicht nur für die Türkei. In den internationalen Beziehungen kommt man mit | |
einer Politik, die sich auf die Person eines Machthabers konzentriert, | |
statt auf die Gesamtheit beider Länder, nicht weiter. In der Türkei hat | |
dieser einzelne Mann den jungen Menschen und Frauen einfach nichts mehr zu | |
bieten. Wir haben bei den Kommunalwahlen gezeigt, dass die AKP nicht | |
unbesiegbar ist. Das hat auch zu Abspaltungen innerhalb der AKP geführt. | |
Letzte Woche kam die CHP bei einer Konferenz in Berlin mit der islamischen | |
Saadet, der nationalistischen Iyi-Partei und der kurdisch geprägten HDP | |
zusammen. Regimetreue Medien unterstellten, hier sei der Plan zu einem | |
Putsch geschmiedet worden. | |
Ich kann verstehen, warum sie so große Angst haben. Die Strategie der AKP | |
fußt darauf, die Menschen zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen, damit | |
sie nicht zusammenkommen. Bisher hat das großartig funktioniert. Ich habe | |
die Abschlusserklärung der Berliner Konferenz gelesen. Ich finde, es war | |
eine Zusammenkunft, die den Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit | |
voranbringen kann. Wenn wir es in der Türkei schaffen, bei all unseren | |
Unterschieden zusammenzustehen, gemeinsam mit den Kurd*innen, aber auch mit | |
nationalistischen Wähler*innen und ehemaligen AKP-Wähler*innen, dann können | |
wir die Herrschaft dieses einen Mannes beenden. | |
In den vergangenen Tagen waren Sie selbst mit einer Delegation in Berlin zu | |
Besuch. Wie verlief Ihr Aufenthalt? | |
Ich fand es wichtig, dass bei vielen Gesprächen Strategien für den | |
weltweiten Kampf gegen Rechtspopulismus im Mittelpunkt standen. Wenn | |
populistische Politik sich etabliert, ist es umso wichtiger, die eigenen | |
Werte ins Zentrum der eigenen Politik zu stellen. Als Sozialdemokrat*innen | |
müssen wir die Grundfreiheiten der Menschen zum Ausgangspunkt unseres | |
gemeinsamen Kampfes gegen den Populismus nehmen. Da gibt es vieles, das | |
unsere deutschen Freund*innen und wir voneinander lernen können. | |
Ich habe ihnen gesagt, um den Sturz der Sozialdemokratie aufzuhalten, | |
müssen wir konkrete Projekte verfolgen, die unsere Erzählung stärken. Wir | |
haben in Istanbul die Kommunalwahlen gewonnen, weil wir unsere eigene | |
Geschichte selbst geschrieben und an sie geglaubt haben. Dabei haben wir | |
uns auf die kleinen Details konzentriert, die oft hinter den großen | |
Versprechungen zurücktreten. Am Ende habe ich mich gefragt, warum wir das | |
nicht schon früher geschafft haben. | |
Der Istanbuler Gouverneur will bis Ende Oktober alle Syrer*innen der Stadt | |
verweisen, die nicht offiziell dort registriert sind. Wir hören von | |
Abschiebungen nach Syrien. Was haben Sie dazu zu sagen? | |
Es ist leider so, dass viele sozial benachteiligte Bürger*innen in der | |
Türkei denken, an Problemen wie Arbeitslosigkeit und niedrigen Einkommen | |
seien die Syrer*innen schuld. Denn Erdoğans falsche Außenpolitik und sein | |
wirtschaftspolitisches Versagen haben sie gegen die Syrer*innen | |
aufgebracht. Wir müssen erstens darüber reden, warum die Syrer*innen | |
überhaupt in die Türkei fliehen mussten und zweitens die Menschenrechte der | |
Geflüchteten in den Vordergrund stellen. Wir müssen Empathie unter der | |
Bevölkerung schaffen, und dazu haben wir bei der Istanbuler Stadtverwaltung | |
eine eigene Abteilung eingerichtet, die sich zum Beispiel um Zugänge zu | |
Gesundheit und Bildung kümmert. Wir müssen etwas dagegen tun, dass | |
Syrer*innen in allen 39 Bezirken Istanbuls in eigenen Ghettos leben. Wir | |
brauchen aber auch eine langfristige Regierungspolitik zur Lösung des | |
Syrienkonflikts. Ich bin gegen Abschiebungen. Niemand soll gegen den | |
eigenen Willen irgendwohin geschickt werden. | |
Im August hat der Istanbuler Gouverneur die von jungen LGBTI+ organisierten | |
Queer Olympix verboten. Auch die Pride ist seit 2015 verboten. Viele LGBTI+ | |
unterstützen die CHP. Was tun Sie für diese Wähler*innen? | |
Um wirklich grundlegend etwas tun zu können, müssen wir an die Regierung | |
kommen. Bis dahin bleibt vieles, was wir wollen, auf der Ebene der bloßen | |
Absichtserklärung. Willkürliche Verbote treffen ja nicht nur LGBTI+, | |
sondern auch Frauendemos und sogar Presseerklärungen dissidenter Gruppen im | |
öffentlichen Raum. Man hat kaum noch Luft zum Atmen. Was wir tun können, | |
ist zum Beispiel nach dem Verbot der Pride mit den Pressestellen unserer | |
Kommunen Inhalte zu verbreiten, die das Verbot kritisieren und erklären, | |
warum LGBTI-Rechte wichtig sind. Es hat deswegen sogar schon einige | |
Ermittlungsverfahren und Shitstorms gegen Mitarbeiter*innen unserer | |
Stadtverwaltungen gegeben. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
27 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Erk Acarer | |
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