# taz.de -- Gorki-Intendantin über Protestformen: „Mutter kam erstmals zur D… | |
> Viele Protestformen prägten die Gezi-Park-Demos in Istanbul. Nun knüpft | |
> ein Festival des Gorki Theaters daran an, sagen Shermin Langhoff und | |
> Erden Kosova. | |
Bild: Shermin Langhoff und Erden Kosova haben das Festival „Gezi – Ten ye… | |
Das Festival „Gezi – Ten Years After“ blickt mit Ausstellungen, | |
Installationen, Theateraufführungen und Diskussionen auf die Gezi-Proteste | |
in Istanbul 2013 und stellt eine Verbindung her zu den aktuellen Wahlen in | |
der Türkei und dem Konflikt von nationalistischen Diskursen und | |
solidarischen Praktiken. Shermin Langhoff, Intendantin des Gorki Theaters, | |
und der Kurator und Aktivist Erden Kosova, die beide 2013 bei den Protesten | |
zugegen waren, geben Auskunft über Inhalte und Ziele des Festivals. | |
taz: Shermin Langhoff, Erden Kosova, wie würden Sie von heute aus gesehen | |
den Geist von Gezi beschreiben? Und wie hat er sich in den vergangenen zehn | |
Jahren verändert? | |
Shermin Langhoff: Er ist das, was er damals war. Denn die Freiheit ist | |
nicht größer geworden, die Demokratie nicht weiter. Insofern ist das der | |
gleiche Geist, den wir rufen. | |
Erden Kosova: Was durch die Gezi-Proteste entstand, war überraschend und | |
neu für uns. In den 1980er Jahren war durch den Militärputsch alles auf | |
Stillstand gestellt. Ich gehöre zu der Generation, die sich in den 1990er | |
Jahren nochmals politisierte. Aber wir waren nicht so revolutionär wie die | |
Menschen der 1970er Jahre. Wir haben uns an die traditionelle Linke und | |
deren Ästhetik, Rhetorik und Diskurs angeschlossen und auch gekämpft, den | |
Taksim-Platz zu okkupieren, mit 1.-Mai-Protesten und Ähnlichem. Aber wir | |
haben nie gedacht, dass wir das schaffen könnten. Gezi aber machte das in | |
einer sehr spontanen Gegenbewegung möglich. Und diese Sprache war für uns | |
total neu. | |
Die Spontanität war neu? | |
Erden Kosova: Ja, und es gab Humor und Vielfalt. Die queere Dynamik kam | |
hinzu und die feministische Bewegung. Und auch die Fußballterminologie. | |
Shermin Langhoff: Erden ist Ultra, wenn man das sagen darf in so einem | |
Zusammenhang. | |
Das ist doch klasse, Kunstkontext und Ultra. Fenerbahce-Ultra, nehme ich | |
an? | |
Erden Kosova: Ja, ich gehörte zur linken Ultragruppe Vamos Bien von | |
Fenerbahce. Am Abend des 31. hat unsere Gruppe mit Beşiktaş-Anhängern der | |
Çarşı-Gruppe quasi gegen die Polizei gekämpft und den Platz physisch in | |
Besitz genommen. Diese Nacht wurde zum Wendepunkt. Und diese neue Ästhetik | |
blieb erhalten. Wir haben neue und andere Sprachen voneinander gelernt. | |
Auch die queere Szene hat sich sehr stark politisiert in diesen vergangenen | |
zehn Jahren, die feministische Bewegung ist super stark involviert. | |
Shermin Langhoff: Den Statistiken nach war die Mehrheit der Protestierenden | |
weiblich. | |
Erden Kosova: Meine Mutter ist zum ersten Mal zu einer Demo gekommen. Es | |
gibt auch diesen Überraschungseffekt mit den älteren Generationen. | |
Shermin Langhoff: Kemalistinnen neben antikapitalistischen Musliminnen. | |
Wenn man mit Ihnen noch einmal in diese Dynamik eintaucht, dann drängt sich | |
die Frage auf: Warum gab es jetzt nicht einen Präsidentschaftskandidaten | |
oder eine Präsidentschaftskandidatin aus der Gezi-Bewegung? | |
Shermin Langhoff: Ganz einfach: Gezi wurde kriminalisiert, von Anbeginn. | |
Der Präsidentschaftskandidat sitzt im Gefängnis: [1][Selahattin Demirtaş], | |
der für die Möglichkeit einer diversen Republik und eines Zusammenlebens | |
verschiedener Völker steht. Oder auch [2][Osman Kavala] … | |
… Ursprünglich ein Unternehmer, der zu den Gezi Seven gehört, die wegen | |
Unterstützung der Gezi-Proteste je zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. | |
Erden Kosova: Es gäbe noch einen Kandidaten, den Abgeordneten Can Atalay, | |
der ebenfalls zu den Gezi Seven gehört. Bei seinen Kampagnen ist das Thema | |
Gezi sehr präsent. | |
Shermin Langhoff: Ja, man sprach von einem Gezi-Geist der Solidarität. Man | |
muss aber auch die Frage stellen, ob sie eine Mehrheit gewählt hätte. Denn | |
mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist weiterhin eher nationalistisch | |
gesinnt. Und das war Gezi ganz und gar nicht. | |
Warum wird das Festival gerade jetzt stattfinden? Gab allein das | |
zehnjährige Jubiläum den Ausschlag? | |
Shermin Langhoff: Nein, es ging um mehr. Gezi stellt auch die Möglichkeit | |
einer utopischen Formulierung von politischer Zugehörigkeit zu einer | |
demokratischen Republik dar und nicht zu Blut und Boden. Auch die Gründung | |
der Türkischen Republik vor 100 Jahren spielt eine Rolle. Es ist auch die | |
Fragestellung von unserem Herbstsalon … | |
… der dann in der nächsten Spielzeit startet und für den „Gezi – 10 Jah… | |
danach“ eine Art Vorspiel darstellt … | |
Shermin Langhoff: … und sich mit Nation, Identität und Zugehörigkeit | |
beschäftigt, ausgehend von Berlin, dem Ort, an dem in Deutschland | |
Nationenbildung stattfand. Gerade erleben wir, dass selbst in Massenmedien | |
wie Bild die Wahl zurückwirkt in innerdeutsche Diskurse von Integration und | |
Zugehörigkeit. Mit dem 6. Berliner Herbstsalon gehen wir auch in den | |
postjugoslawischen Raum 30 Jahre nach einem Krieg, kommen zum Krieg in der | |
Ukraine und betrachten Europa in diesen letzten 30 neoliberalen Jahren. | |
Über allem schwebt unser suizidaler Krieg gegen die Natur. Auch Gezi ist | |
mit einem Baum losgegangen, mit dem Schützen eines Parks. | |
Welche künstlerischen Positionen beim Festival liegen Ihnen besonders am | |
Herzen? | |
Shermin Langhoff: Unbedingt hinweisen möchte ich auf die Eröffnung am 26. | |
und 27. Mai. Wir laden zu einer gemeinsamen öffentlichen Aktion auf den | |
Bebelplatz ein, wo wir im 90. Jahr der Bücherverbrennung mit dem | |
Choreografen Omer Krieger Texte aus damals verbrannten Bücher lesen werden. | |
Eine der Widerstandsformen bei Gezi war schließlich, dass | |
Demonstrant*innen sich vor Polizisten gestellt haben und ihnen aus | |
Büchern über Aufklärung, Freiheit, Frieden und Zukunft vorgelesen haben. | |
Danach führt Omer Krieger die Performance „Eviction“ auf, in der es um den | |
Widerstand gegen das Vertreiben von Menschen aus ihren Wohnstätten und | |
gegen den Verlust des öffentlichen Raums aufgrund von Kapitalinteressen | |
geht. Die Mitte Berlins ist durch die restaurative Praxis dieses in Public | |
Private Partnership entstandenen Schlosses geprägt. Am Taksimplatz in | |
Istanbul wurde genau das verhindert, der kemalistische Kulturpalast wurde | |
verteidigt und eben keine osmanische Kaserne dort hingestellt! Diese | |
Dialektik muss man aus Berliner Sicht mal wahrnehmen. Außerdem laden wir zu | |
dokumentarischen Ausstellungen ein, unter anderem zu den Verfolgungen im | |
Kontext von Gezi wie etwa [3][Silivri], dem größten Journalistengefängnis | |
der Welt. Es gibt das Dokumentarfilmfestival Gezinema, das Filme zu Gezi | |
zeigt, aber auch Widerstandsszenarien aus Myanmar, Chile, Brasilien, | |
Belarus oder Frankreich. Fulminante Theatergastspiele gibt es auch. „The | |
Republic of Baklava“ ist eine griechisch-türkische Produktion, in der es um | |
Utopien und Visionen von Gemeinschaft geht. | |
Vom Süßen wieder zum Herben: Wie lautet Ihre Prognose für die Stichwahl in | |
der Türkei, die im Verlauf des Festivals stattfindet? | |
Shermin Langhoff: Eine gemeine Frage! Wenn es keinen Wahlbetrug gibt, wenn | |
es gelingt, die Massen wieder zu mobilisieren, die gegen Erdoğan zur | |
Wahlurne gegangen sind, dann gibt es eine sehr reelle Chance für einen | |
anderen Präsidenten. | |
Erden Kosova: Ich fürchte, ein Wahlbetrug wird organisiert. Aber ein | |
besseres Scheitern kann auch ein Sieg sein. | |
26 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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