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# taz.de -- Kritisches Kino aus der Türkei: Gefangene des Orts
> Ferit Karahans Film „Brother’s Keeper“ kritisiert autoritäre Strukture…
> Er spielt in einem ostanatolischen Internat, streng und repressiv
> geführt.
Bild: Repression im Internat für kurdische Jungen in Ostanatolien Foto: déjà…
Berlin taz | Ein Internat in der ostanatolischen Provinz, hoch oben in den
Bergen der kurdischen Regionen der Türkei: Durch den endlos fallenden
Schnee schleppt der junge Yusuf seinen Freund Memo über den Schulhof ins
Krankenzimmer der Schule. Einige ältere Schüler werfen den Schnee vom Weg
mit Schaufeln auf mehr als kopfhohe Haufen. Um überhaupt ins Krankenzimmer
hineinzukommen, muss der Schüler, der es betreut, das Schloss erst mit
heißem Wasser aus einer Teekanne auftauen.
Die medizinische Behandlung besteht aus einer Aspirin und einem Becher
Wasser. Dann dämmert Memo in einen bewusstlosen Zustand weg. Das
Krankenzimmer mit dem regungslosen Jungen wird zum zentralen Handlungsort
von Ferit Karahans Spielfilm „Okul Tıraşı“ (Brother’s Keeper) werden.
Der türkisch-kurdische Regisseur zeigt eine Institution, in der die
Lehrer_innen die Ordnung mit großer Härte aufrechterhalten. Morgens,
während die Schüler sich in ihre Hemden und Miniaturanzüge zwängen und die
Krawatte umbinden, schreit der Lehrer mit dem Stock in der Hand vom Flur
aus in die Zimmer.
Als Yusuf sich unwillig aus dem Krankenzimmer löst und seinen Freund der
Obhut des Krankenwarts überlässt, schiebt er sich zwischen die Reihen
seiner Mitschüler beim Morgenappell. Auf die versammelten frierenden
Schüler prasselt gerade eine nationalistische, unerbittliche Tirade des
Direktors herunter. Diese seien undankbar gegenüber den angeblichen
Wohltaten des Staates und überhaupt sei früher alles noch härter gewesen
und die Schüler hätten es viel zu gut.
## Kopfrasur als Strafe
Dann ruft einer der Lehrer „Applaus!“ und alle klatschen pflichtschuldig.
Hinter den Schülern erheben sich die Berge und lassen die
Selbstbeweihräucherung klein erscheinen. Dann lässt sich der Direktor einen
der Schüler aus den Reihen fischen und rasiert ihm zur Strafe für eine
Übertretung mitten auf dem Kopf einen Streifen Haare ab. Übersetzt heißt
der Titel „Okul Tıraşı“ Schulrasur.
Das Internat ist in der Region eine angesehene Schule. Als Yusuf später mit
einem geborgten Handy seine Mutter anruft, wimmelt die ihn ab und ruft ihm
in Erinnerung, dass die Familie daheim im Dorf auf ihn und seine Ausbildung
hofft. Eine schwere Bürde für einen Elfjährigen, der sich Lehrern
gegenübersieht, die Ohrfeigen für Pädagogik halten.
Regisseur Karahan hat in den 1990er Jahren selbst sechs Jahre in einem
solchen Internat verbracht und anschließend auf dem Weg zum Filmemacher
lange um eine angemessene Auseinandersetzung gerungen. Im Jahr 2009 schrieb
Karahan einen ersten Drehbuchentwurf, konnte auch eine Drehbuchförderung
einwerben, bekam aber keine Produktionsförderung. Das Projekt schlief ein.
Stattdessen entstand 2013 sein Debütfilm „Cennetten Kovulmak“ („The Fall
from Heaven“) als türkisch-italienische Koproduktion, der 2014 auf den
Filmfestivals in Antalya und Ankara mit mehreren Preisen ausgezeichnet
wurde.
Als Yusuf nach dem Unterricht zu seinem Freund ins Krankenzimmer
zurückkehrt, liegt Memo unverändert auf der Liege. Yusuf informiert einen
der Lehrer. Memo zum Arzt zu transportieren, erweist sich angesichts der
dichten Schneedecke als kompliziert. Das Auto des Direktors hat keine
Winterreifen und kommt nicht durch, und der einzige andere Fahrer kann
nicht kommen.
## Autoritär und hilflos
Einer nach dem anderen kommen die Lehrer ins Krankenzimmer, legen die Hand
auf Memos Stirn, stellen fest, dass er kein Fieber hat, stellen ein paar
Fragen, die zu nichts führen, und sagen Sätze, die nichts lösen. Ihre
Fähigkeiten reichen nicht für den bewusstlosen Jungen.
In ihrer Hilflosigkeit beginnen die Lehrer, sich auf der Suche nach der
Ursache gegenseitig die Schuld zuzuschieben und laufen mit dem Handy umher,
den Arm ausgestreckt, um Empfang zu finden und Rettung von außen.
Als der Direktor den Raum betritt, stabilisiert sich die im Zerfall
befindliche Ordnung für einen kurzen Moment, um dann vollends
zusammenzubrechen, als dieser – wie seine Vorgänger recht schnell ratlos –
den Anweisungen des Schülers aus dem Krankenzimmer folgend am Fenster auf
einen Stuhl steigt, um, das Ohr dicht an der Scheibe des Oberlichts, mit
dem nun flüchtig vorhandenen Handysignal einen Krankenwagen zu rufen.
Wohlstrukturiert und darum umso grundsätzlicher zerlegt Ferit Karahan die
Selbstherrlichkeit des autoritären Internats.
Karahan, der das Drehbuch zu „Okul Tıraşı“ gemeinsam mit seiner Frau
Gülistan Acet geschrieben hat, nimmt das marode Heizungssystem, das sich
wie ein Running Gag durch den Film zieht, als Symbol für das Zerbröseln der
Verhältnisse in der Schule. Wieder und wieder fährt vor allem der Direktor
den Hausmeister Mahmut an, ohne dadurch irgendetwas zu ändern. Als Mahmut
schließlich kapituliert und einen Installateur anruft, hat der genauso
wenig Zeit, der Schule aus der Patsche zu helfen, wie der Fahrer.
## Logik der Unterwerfung
Der Direktor und die Lehrer führen das Internat im Niemandsland der Berge
wie ein Umerziehungslager. Innerhalb der Schule bestimmen sie die Regeln,
denen sich die Schüler aus dem Umland zu unterwerfen haben. Diese Regeln
folgen einer mehr oder weniger kolonialen Logik, in der die Entsandten des
türkischen Staates den kurdischen Schülern erwünschtes Verhalten
anerziehen.
Als Yusuf in eine Unterhaltung zwischen zwei Lehrern hineingerät, ist deren
Ton untereinander jovial. Als das Gespräch auf die Schüler und den
Hausmeister kommt, ändert sich der Ton: „Die Kerle sind
Platzverschwendung“, „Die wissen nix von Arbeit“.
Indem Karahan durch den bewusstlosen Schüler die Ordnung der Schule
durcheinanderbringt, kehrt er die Verhältnisse um. In dem Moment, in dem
der Direktor und die Lehrer auf Hilfe von außen angewiesen sind, die mit
ihren gewohnten Mitteln unerreichbar ist, werden sie selbst zu Gefangenen
des Ortes.
Bilder von Türksoy Gölebeyi unterstreichen die räumliche Enge. Immer wieder
schieben sich Körperteile, Schultern, Rücken vor die Kamera und bilden
unscharfe Flächen in den Bildern, die räumlich vor dem Geschehen liegen.
Der Raum scheint nicht zu reichen, um diesen Störfaktoren auszuweichen. Die
Lehrer wiederum wirken nicht selten, als wären sie in der Kadrierung
eingeengt worden. Jene Szene, in der Yusuf seinen Freund über den Schulhof
schleppt, ist eine der wenigen Totalen des Films.
## Preis auf der Sommerberlinale
Memos Bewusstlosigkeit und Yusufs Einsatz für seinen Freund entziehen sich
der Enge und damit der Logik des Ortes. Dass die Bilder des Films im heute
beinahe ungebräuchlichen Normalformat aufgenommen sind, lädt den Eindruck
der Enge zusätzlich mit einer Assoziation von Überkommenheit auf. Karahans
Film zeigt die Institution der Provinzinternate als überkommenen,
repressiven Ort der Zurichtung der jungen Schüler in fügsame Bürger.
„Okul Tıraşı“ hatte das Pech, mitten in der Pandemie fertig zu werden und
eine entsprechend brüchige Aufführungsgeschichte. Der Film lief Anfang 2021
auf dem Hongkong Film Festival, im [1][Sommer 2021 auf dem Open Air der
Berlinale Summer Special] und später auf den Festivals in Karlovy Vary,
Antalya und Chicago.
Auf der Sommerberlinale wurde er mit dem Preis der internationalen
Vereinigung der Filmkritiker (FIPRESCI) ausgezeichnet. Karahans Film ist
ein weiteres Beispiel dafür, dass der türkische Film der Gegenwart, den
autoritären politischen Tendenzen der Türkei zum Trotz, quicklebendig,
kritisch und verlässlich sehenswert ist.
28 Jul 2023
## LINKS
[1] /Brothers-Keeper-auf-der-Berlinale/!5774787
## AUTOREN
Fabian Tietke
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