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# taz.de -- Kurdenkonflikt auf dem Theater: Meine Worte, wo seid ihr hin?
> Das Hessische Staatstheater Wiesbaden zeigt ein Stück über den
> Kurdenkonflikt nach einem Roman von Bachtyar Ali. Das Publikum
> applaudierte stehend.
Bild: Politischen Nerv getroffen: „Die Besetzung der Dunkelheit“ in Wiesbad…
Ist ein Dämon in ihn gefahren? Oder wurde er verhext?, fragen sich die
Angehörigen Ismet Oktays (Ferhat Keskin), der eines Morgens nur noch
vermeintlichen Kauderwelsch über die Lippen bringt. Bevor er seine Sprache
verlor, machte der Türke keinen Hehl aus seiner rechtsnationalistischen
Gesinnung. Nun spricht er, der Fremdenfeind, Kurdisch, das es nach Angaben
der herrschenden Elite gar nicht gäbe. Gemeinsam mit anderen „Erkrankten“
wird er nach ersten Folterungen in einer sogenannten Psychiatrie
interniert.
Was an Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ erinnert, ist auf der Bühne des
Theaters in Wiesbaden das Destillat des mehrere hundert Seiten schweren
Romans „Die Besetzung der Dunkelheit“ aus der Feder des kurdischen Autors
[1][Bachtyar Ali.] Viele Handlungsstränge laufen darin parallel – etwa
jener über einen gegen das Regime opponierenden Arzt oder die Geschichte um
einen insgeheim homosexuellen Übersetzer beim Geheimdienst, der hadernd mit
dieser Aufgabe jene Minderheiten ausspionieren soll, gegen die sein Vater
mit xenophober Propaganda hetzt.
Dieses Mammutwerk auf die Bühne zu bringen stellt zweifelsohne eine
Herausforderung dar, der das Hessische Staatstheater Wiesbaden zumindest
teilweise erlegen ist. Mehrfach wiederholen sich in [2][Ihsan Othmanns]
Uraufführung der ausufernden Textfassung Szenen der Konfrontation zwischen
den kolonialen Herrschern und den unterdrückten Kurden.
Diese etwas ermüdenden Aufklärungsschleifen lockert glücklicherweise der
Mut zur Karikatur auf. So begegnen uns beispielsweise die türkischen
Minister als senile Männer mit weißen Haaren, scheinbar kernige Generäle
philosophieren derweil mit Kastratenstimme über allerlei Blödsinn zu
Identitätsfragen.
## Drehungen wie bei Hitchcock
Eingebettet ist die Reflexion des – im Schatten des Ukrainekriegs – noch
immer virulenten ethnischen Konflikts in ein symbolisch anspielungsreiches
Bühnenbild, den ingeniösen Coup der Darbietung (Kulisse: Olaf Grambow). Zu
sehen ist eine Rondellbühne mit einem halbgeöffneten, spiralförmigen
Aufgang.
Wenn sie sich dreht, assoziiert man damit sowohl den ewigen Kreislauf des
Hasses und die ewige Verbreitung rassistischer Stereotype als auch die
bekannte Schneckenfrisur von Kim Novak in Alfred Hitchcocks „Vertigo“. Wie
im Film steht die Drehung nach innen auch in diesem Stück für das
Irregehen, zum einen bezogen auf das individuelle Schicksal Ismets, zum
anderen auf eine Mehrheitsgesellschaft, die um jeden Preis die Ideologie
einer völkischen Uniformität umzusetzen sucht.
Auch wenn dieser Aufführung abseits des Bühnenbilds und einer letztlich vor
allem illustrativen Live-Klaviermusik sichtlich die besonderen Akzente
fehlen, also jene packenden Momente, die im Inneren der Zuschauerinnen und
Zuschauer tatsächlich nachhallen, erweist sich das Regiehandwerk als
solide. Ästhetische Innovation sollte man nicht erwarten.
## Wichtiger politischer Nerv
Deutet man unterdessen den mit Standing Ovations begleiteten Applaus
richtig, so scheint die Inszenierung dessenungeachtet einen wichtigen
politischen Nerv zu treffen. Zahlreiche Besucherinnen und Besucher mit
offenbar kulturellen Wurzeln im Nahen Osten bekunden ihre Ergriffenheit ob
der zumindest auf der Bühne hergestellten Gerechtigkeit. Jene, die auch in
diesen Tagen in der Türkei ihrer Stimme beraubt werden, finden nun in
Wiesbaden Gehör.
Darf man folglich auf ein versöhnliches Ende hoffen? Leider nicht. Von
einer Gruppe Kurden wird nämlich der Dolmetscher Ali Ihsan Akansu (Philipp
Steinheuser) ermordet. Gewalt ruft Gegengewalt hervor, so die Botschaft.
Was bleibt, ist ein am Schluss auf der Bühne vorgetragenes kurdisches
Lamento. Einige im Publikum können es offenbar mitsummen – der wohl
eindringlichste Moment des Abends!
20 Feb 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Björn Hayer
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