# taz.de -- „Brother's Keeper“ auf der Berlinale: Schneesturm und vereiste … | |
> Regisseur Ferit Karahan verhandelt in „Brother’s Keeper“ Bürokratie und | |
> Repression. Der Film ist eine Groteske, erzählt mit grimmiger Komik. | |
Bild: Memo (Nurullah Alaca) und Yusuf (Samet Yıldız) im Berlinale-Film „Bro… | |
„Brother’s Keeper“, der Gewinner des Fipresci-Preises der Berlinale, füh… | |
in eine Welt in absolutem Kontrast zum Sommerfeeling des | |
Publikumsfestivals, die trotz Kälteschock dennoch unbedingt den Besuch | |
lohnt. | |
Der türkisch-kurdische Regisseur Ferit Karahan greift in diesem Film auf | |
eigene Kindheitserfahrungen in einem staatlichen Internat im | |
ostanatolischen Hinterland zurück, einem von zahlreichen Instituten, die | |
den Kindern der bäuerlichen kurdischen Bevölkerung Bildungschancen | |
eröffnen, allerdings unter [1][türkisch-nationalistischem Anpassungsdruck,] | |
wie er den Hintergrund der Geschichte im Presseheft des Films erklärt. | |
Die Winterkälte um minus 35 Grad, ein aufkommender Schneesturm und vereiste | |
Straßen bestimmen die Ereignisse in „Brother’s Keeper“ wie ein bösartig… | |
Gegenspieler mit, offenbaren dabei jedoch dramatisch, was es mit dem harten | |
Drill in der Männerwelt dieser Erziehungsanstalt auf sich hat. | |
Ferit Karahan fügt mit seinem Film über Verhältnisse in den 1990er Jahren | |
dem [2][Genre Internatsfilm] eine eigenwillig düstere, mit grimmiger Komik | |
unterlegte Note hinzu. | |
## Brutaler Internatsalltag | |
In fahlen Winterfarben begleitet die Kamera den zwölfjährigen Yusuf und | |
seinen besten Freund Memo, die im brutalen Alltag zwischen abendlicher | |
Massendusche, Schlaf in Doppelstockbetten, Frühstück im Speisesaal, Gejohle | |
im Klassenraum und abgelegenem Krankenzimmer 24 Stunden allein gelassen | |
werden. | |
Die Aufsicht führenden Lehrer, selbst frustrierte, an beiläufige | |
Stockschläge, Kopfnüsse und martialische Ansagen gewöhnte ehemalige | |
Internatsschüler, überlassen das Regiment über die quirlige Herde den | |
älteren Schülern und haben weder Zeit noch Aufmerksamkeit für die Not, die | |
Yusuf umtreibt. | |
Als Memo im engen Waschraum mit einem stärkeren anderen Jungen in Streit um | |
das Gießgefäß gerät, wird die kleine Gruppe in der Kabine zur Strafe dazu | |
verdonnert, sich bis zum Ende des Rituals mit eiskaltem Wasser zu waschen. | |
Memo, ein zartes, heimwehkrankes Kind, bittet den Freund darauf, im | |
gleichen Bett mit ihm schlafen zu dürfen, was Yusuf ablehnt, weil Gerede | |
darüber entstehen könnte. | |
Was in den folgenden Nachtstunden geschieht, wird sich am Ende als gut | |
gemeinte, von Yusufs Mitgefühl getragene Verstrickung in Memos Schicksal | |
erweisen. Elliptisch lückenhaft erzählt, lenkt der Film den Blick aus | |
Yusufs Perspektive auf den nächsten Morgen. | |
## Kurdistan existiert hier nicht | |
Aus Yusufs Perspektive, immer wieder auf den intensiven dunklen Blick des | |
Kindes konzentriert, folgt man den Morgenritualen der fünften Klasse. Im | |
Geografie-Unterricht geht es zum Beispiel um die Aufzählung der türkischen | |
Regionen, und als ein Schüler das Internat in Kurdistan verortet, fährt ihm | |
die Lehrerin über den Mund, weil es sich um Ostanatolien handele [3][und | |
Kurdistan nicht existiere.] | |
Yusuf sucht indessen Hilfe für den kranken Freund, darf ihn schließlich in | |
das ungeheizte Krankenzimmer bringen, wo zunächst heißes Wasser für die | |
vereiste Metalltür aufgetan werden muss, Memo ein Aspirin verpasst bekommt | |
und in Bewusstlosigkeit fällt. Es geht schief, was schiefgehen kann, als | |
sich Yusuf durch den Schnee aufmacht, um die Lehrer um Hilfe zu bitten. | |
Wer immer zuvor die Aufsicht führte, findet sich am Krankenbett ein, nicht | |
ohne auf dem spiegelglatt vereisten Steinboden auszurutschen. Was ist zu | |
tun, wenn der Schulbus mit dem Auftrag, Käse für den Direktor zu kaufen, in | |
der Stadt festsitzt, wenn das einzige verfügbare Auto nur Sommerreifen | |
besitzt und die Ambulanz auf den Einsatz der überlasteten Schneepflüge | |
warten muss? | |
„Brother’s Keeper“ ist alles andere als ein sentimentales Rührstück, eh… | |
eine scharfsinnige Groteske über Bürokratie, Mangelwirtschaft, ein System, | |
das Repression, Konformität, Heimlichkeiten und Grausamkeiten fördert. | |
Yusufs Blick in die Kamera, nachdem ausgerechnet er mit einem Strafritual | |
gebrandmarkt wurde, sagt viel über die Haltung, mit der sich der Regisseur | |
von diesem absurden Erziehungsprogramm emanzipierte. | |
14 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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