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# taz.de -- Netflix-Serie „Acht Menschen in Istanbul“: Quer durch alle Schi…
> „Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“ ist das Psychogramm einer
> Gesellschaft. Darin konkurriert der Hodscha mit der Psychiaterin.
Bild: Fimstill aus der Netflixserie „Bir Başkadır – Acht Menschen in Ista…
Wie kann eine türkische Serie, die gänzlich auf Action und
melodramatische Szenen verzichtet, zum Politikum werden? Eine
achtteilige Serie, die lange Dialoge enthält und eher eine
Low-Budget-Produktion für ein Arthouse-Publikum ist? Doch die Netflix-Serie
„Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“, die Mitte November angelauf…
ist, hat genau dies geschafft.
Erbittert wird in den sozialen Netzwerken gestritten. Die
Netflix-Produktion wird mit überwältigendem Zuspruch, aber auch extremer
Missgunst bedacht. Erstaunlich ist dabei, dass Gefallen und Missfallen quer
durch alle politischen Lager verläuft. Linke und Feministinnen,
konservative Moslems und Säkulare, sie sind sich auch untereinander uneins.
„Eine große Niederträchtigkeit“, titelt die islamistische Zeitung Yeni
Akit. Sie verurteilt den Angriff auf die „nationalen und geistigen Werte“
und fordert die türkische Zensurbehörde auf, einzugreifen. Eine angedeutete
Masturbation mit Kopftuch sowie lesbische Beziehungen waren wohl zu viel
des Guten. Andere wiederum loben die Netflix-Produktion, weil sie gegen die
Islamophobie Partei ergreife.
Ein „Anti-Feminismus reloaded“, resumiert jedoch eine andere Autorin.
Während eine andere feministische Momente zu erkennen glaubt. Die Säkularen
würden verspottet, kritisieren die einen, während andere Säkulare meinen,
die Serie bringe das Thema Islam und Kopftuch auf den Punkt. Da gibt es
Linke, die sagen, die soziale Frage und Klassenzugehörigkeit würde
zugunsten eines Kulturalismus ausgeblendet. Während andere gerade den
sozialen „Realismus“ dieser Serie preisen.
## Offene Wunden
Die hitzige Debatte offenbart, dass die Netflix-Produktion den Finger auf
die offenen Wunden der Gesellschaft legt. Und dies gilt offenbar nicht nur
für die Türkei. Auch in Ägypten, Jordanien, Libanon, Saudi-Arabien, Katar,
Oman, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Marokko ist die Serie unter
den Netflix-Top-10 und somit auch ein kommerzieller Massenerfolg.
Berkun Oya, Drehbuchautor und Regisseur, porträtiert Istanbuler quer durch
alle sozialen und kulturellen Schichten in ihrem Zusammenspiel im
Lebensalltag. Da ist die Putzfrau Meryem, die aus der konservativen,
dörflichen Peripherie zur Arbeit in die Haushalte der Reichen in der City
aufbricht. Sie lebt bei ihrem älteren Bruder Yasin (verheiratet mit der
depressiven Rukiye, zwei Kinder). Er hat einst in einem Sonderkommando der
türkischen Armee gedient und arbeitet nun als Wachmann in einem Nachtclub.
Mit Müh und Not bestreiten Yasin und Meryem ihre Existenz. Die moralischen
Richtlinien, um ihr Leben zu gestalten, holen sie beim Dorfgeistlichen Ali
Sadi ein, dem Hodscha, dem Imam der Moschee. Und da ist Peri, die
Psychiatierin aus dem reichen, säkularen Elternhaus. Sie ist stark, solo
und sie könnte auch mühelos den Charakter eines CEO bei einem Großkonzernes
ausfüllen.
Da sind die verfeindeten kurdischen Geschwister Gülbin und Gülan, deren
Familie aus Kurdistan nach Istanbul gezogen ist. Gülbin hat Medizin
studiert, ist Psychiatierin, während Gülan sich ihren sozialen Aufstieg
durch eine gute Heirat und Anpassung an die herrschenden politischen
Verhältnisse gesichert hat.
## Hayrinüsa hört Electro
Da ist Melisa, Schauspielerin einer türkischen Soap im Fernsehen. Sowie
Sinan, der reiche Playboy, der in einer Residenz wohnt und bei dem Meryem
putzen geht. Und da ist der Nachwuchsgeistliche Hilmi, der ganz mitgenommen
von Carl Gustav Jung ist und auf Hayrinüsa, die Tochter des islamischen
Hodscha, steht, die heimlich Electro-Musik hört.
[1][Die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft, die politischen
Konfliktlinien] – der kurdische Konflikt, die Rolle des Islam, das Kopftuch
als Symbol politischer Identität, die extreme soziale Ungleichheit:
Regisseur Oya hat wagemutig vieles in Therapiesitzungen verlegt. Putzfrau
Meryem ist mehrfach in Ohnmacht gefallen. Sie wird im Krankenhaus
untersucht und wird schließlich in die Psychiatrie überwiesen. Sie sitzt
nun auf der Couch der Pychiaterin Peri gegenüber.
Gegensätzlichere Charaktere hätte man sich kaum ausdenken können. „Was
machen wir nun?“ fragt Meryem. „Vielleicht können wir uns ja ein wenig
unterhalten“, sagt Therapeutin Peri. Sprachlosigkeit angesichts völlig
gegensätzlicher Lebenswelten. Doch der Versuch, miteinander ins Gespräch zu
kommen, markiert vielleicht den roten Faden dieser Serie.
Die fromme Meryem („ein schöner Name, Meryem/Maria war die Mutter von
Jesus“) erzählt, man sage im Dorf, der Hodscha stamme vom Geschlecht des
Propheten Mohammed ab. Vom Hodscha muss sie sich auch die Erlaubnis holen,
um weiter zur Therapie kommen zu dürfen.
## Wie ein Alien
Auf der anderen Seite zeigt die Serie eine Peri, die ihrerseits in der
Supervision mit Therapeutin Gülbin eingesteht, dass ihre Patientin Meryem
sie zur Weißglut treibt. Kopftuchträgerinnen sind für Peri Gestalten, die
einem UFO entstiegen sein könnten. Sie war im Urlaub in Peru. Selbst mit
den fernen Peruaner:innen habe sie leichter kommunizieren können als mit
diesen Kopftuchfrauen.
In der Serie wird nicht nur die Therapeutin der Patientin helfen, sondern
auch die Patientin wird die Therapeutin zu ihren unverarbeiteten
Kindheitstraumata führen. Die Naivität ebenso wie die Intelligenz Meryems
wird in einer schauspielerischen Glanzleistung von Öykü Karayel in Szene
gesetzt.
Die kluge Meryem schafft es immer wieder, einigen Fragen der Therapeutin
auszuweichen. Und irgendwann fragt sie, wie lange man studieren müsse, um
Ärztin zu werden. Und stellt fest: „Du hast wirklich nicht umsonst
studiert. Du schaffst es, alles zurechtzubiegen und auf den Punkt zu
bringen.“
Bei der Thematisierung des kurdischen Konfliktes setzt Regisseur Oya zwei
kurdische Geschwister in ihrem Elternhaus in Szene. Wegen der Behandlung
ihres querschnittsgelähmten Bruders gehen Gülbin und Gülan aufeinander los.
Beiläufig erfährt das Publikum von Vertreibung und Leid dieser kurdischen
Familie.
## Geh doch zur PKK!
Gülbin scheint mit der kurdischen Opposition zu sympathisieren, sodass ihre
Schwester sie anschreit: „Geh doch zu deinen Freunden in den Bergen!“
Andere Szenen legen nahe, dass Gülan, die einen teuren SUV fährt und
ständig demonstrativ irgendwelche Gebete murmelt, sich mit dem politischen
Regime arrangiert hat. Sie scheint in [2][das lukrative Islam-Business]
eingestiegen zu sein und hat mit irgendwelchen islamischen Stiftungs- und
Moscheeprojekten zu tun.
Der Publikumserfolg der Serie ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet,
dass die Charaktere nicht wie irreale Figuren wirken. Es sind Menschen aus
Fleisch und Blut, denen wir überall in Istanbul begegnen. Die Furore, die
die Serie entfacht hat, zeigt, dass die Leute sich in den Charakteren
wiedererkennen. Ebenso der Missmut, den sie bei manchen hervorruft, die
sich meinen, darin wiederzuerkennen, aber in ihrer Darstellung nach außen
selber sich ganz anders sehen.
Doch Didaktik und den erhobenen Zeigefinger wird man in „Bir Başkadır –
Acht Menschen in Istanbul“ vergebens suchen. Moralische Urteile sind dem
Drehbuchautor und Regisseur fremd. Stattdessen wird langsam erzählt. Und
man fragt sich am Ende: Ist das, was wir in der Türkei Gesellschaft nennen,
vor allem eine Ansammlung marginalisierter und von Traumata geplagter
Menschen? Tragikomische Figuren, die einfach nicht klarkommen mit den
gewaltigen politischen und kulturellen Umbrüchen in dem Konglomerat von
Orient und Okzident?
Vielleicht. Doch vielleicht gibt es noch einen Weg, miteinander ins
Gespräch zu kommen und die eigene Geschichte zu verarbeiten.
Mit Konzertauftritten des Sängers Ferdi Özbegen klingen die ersten Folgen
aus. Eine blasse Erinnerung an die „schönen, guten alten Zeiten“ der
siebziger und achtiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Özbegen war ein
Phänomen. Seine Schnulzen gefielen sowohl den Binnenmigranten, die aus
Anatolien in die Stadt strömten, als auch den Eliten.
Dabei war er auch ein Marginalisierter. Sohn einer armenischen Mutter und
eines moslemischen Vertriebenen aus Kreta. Bevor er zu Ferdi wurde, wuchs
Ferdinand christlich auf. Ferdi Özbegen war schwul. Um sein Erbe dem Mann
zu vermachen, den er so sehr liebte, adoptierte er ihn.
27 Nov 2020
## LINKS
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