# taz.de -- Netflix-Film „Hillbilly-Elegy“: Wir entscheiden, wer wir werden | |
> J. D. Vance' Memoiren galten als Erklärung für Trumps Rückhalt in der | |
> weißen Unterschicht. Ron Howard verfilmt sie als neoliberale | |
> Erfolgsstory. | |
Bild: Mamaw (Glenn Close) und Bev (Amy Adams) in „Hillbilly Elegy“ | |
Seine Aufstiegsgeschichte ist beachtlich, keine Frage: J. D. Vance wurde | |
Mitte der 80er in eine Familie geboren, die aus der Gebirgsregion der | |
Appalachen in Kentucky und damit aus einem Gebiet stammt, deren Einwohner | |
„Hillbillys“ („Hinterwäldler“) genannt werden. Die Großeltern | |
mütterlicherseits beschließen ob der Aussicht auf lukrative Arbeit in einem | |
Stahlwerk nach Middletown, Ohio, in den heute bezeichnenderweise als „Rust | |
Belt“ bekannten Teil der USA zu ziehen. | |
Die Großmutter ist zu dem Zeitpunkt erst dreizehn und bereits schwanger. | |
Mit der dahinschwindenden Industrie nehmen die Probleme zu, so etwas wie | |
Familienfrieden gibt es nicht. Ihre Tochter Beverly wird ebenfalls früh | |
schwanger, womit sich höhere Bildung und Karriere für diese trotz | |
vielversprechender Noten erledigt haben. | |
Dem Strudel aus Armut und Hoffnungslosigkeit, Alkohol und härteren Drogen, | |
ständigen Aggressionen und Gewaltausbrüchen, in dem auch die Mutter | |
versinkt, konnte Sohn Vance entkommen. | |
Er schaffte es an die Yale University und studierte Jura. Bevor er | |
Finanzmanager wurde, verfasste er sein Buch [1][„Hillbilly Elegy: A Memoir | |
of a Family and Culture in Crisis“], das 2016 dankbar als Erklärung für | |
Donald Trumps überraschenden Sieg aufgenommen wurde. | |
## Ein Mann, der Hass teilt | |
Hass auf „die belehrenden Eliten“ und „abgehobenen Medien“ führten laut | |
Vance zur Entfremdung von der Politik in Washington – hin zu einem Mann, | |
der den eigenen Hass teilt, Arbeitsplätze verspricht, sich „hemdsärmelig“ | |
gebiert und über politische Korrektheit spottet. | |
Das Buch interessiert sich mehr für die Situation der weißen Unterschicht | |
als die Frage, wie sie verbessert werden kann. Vance scheint als Lösung | |
eine diffuse Mischung aus politischer und Eigenverantwortung vorzuschweben | |
– auch wenn er als Republikaner, der sich selbst als „sehr altmodischen | |
Konservativen“ beschreibt, zu Letzterem tendiert. | |
[2][Ron Howards] Adaption hingegen lässt keinen Raum für Ambiguitäten und | |
vereindeutigt Vances Biografie zu einer neoliberalen Erfolgsgeschichte, in | |
der Ehrgeiz allein den Weg aus dem Elend weisen kann. | |
Dafür konzentriert sich das Drehbuch von Vanessa Taylor ([3][„Shape of | |
Water“]) auf eine wichtige Episode während Vances (Gabriel Basso) Studium: | |
Die Studienkosten, die sich trotz Fördermaßnahmen noch in fünfstelliger | |
Höhe bewegen, müssen getilgt und dafür muss ein einträglicher Semesterjob | |
in einer angesehenen Kanzlei ergattert werden. | |
## Tragisches Familiendrama mit Disney-Anstrich | |
Doch mitten in der Bewerbungswoche erreicht ihn ein Anruf seiner Schwester | |
Lindsay (Haley Bennett): Mutter Beverley (Amy Adams) hat sich eine | |
Überdosis Heroin gespritzt und liegt im Krankenhaus. Vance setzt sich ins | |
Auto und fährt zehn Stunden gen Heimat. In Rückblenden wird ausgehend vom | |
Jahr 1997 ein Familiendrama erzählt. Eines, das bis auf kleine Momente der | |
Unbeschwertheit nur Qualen kennt und irritierenderweise dennoch mit einem | |
Anstrich von Feel-Good-Movie daherkommt. | |
Das Aufbruchstimmung verheißt, obwohl all seine Figuren – außer Vance – | |
ununterbrochen auf der Stelle treten. Schuld daran mag das lebhafte Kolorit | |
der Bilder sein, die dem Film den ungehörigen Anflug eines | |
Disney-Familienfilms aus den Neunzigern verleihen. Die vollmundige | |
musikalische Untermalung durch Hans Zimmer verstärkt diesen Eindruck | |
zusätzlich. | |
Ohnehin bemüht sich „Hillbilly-Elegie“ um Konsensfähigkeit. Wie schon in … | |
Beautiful Mind“, in dem es um den an Schizophrenie erkrankten Mathematiker | |
John Nash geht, lässt Ron Howard allzu große Unliebsamkeiten in den | |
Biografien der Porträtierten überspielen. | |
Der Rassismus der Großmutter (Glenn Close) muss wohldosiert sein, damit sie | |
dem Film als Sympathieträgerin nicht abhandenkommt. Ihre Gewaltbereitschaft | |
– immerhin zündet sie ihren Ehemann an, als sich dieser im Alkoholdelirium | |
wiederholt einnässt – kommt nur punktuell zum Vorschein. | |
## Rassistisch, aggressiv und drogenabhängig | |
Während sich die Großmutter letztlich als Anker erweist und Vance zu | |
besseren Leistungen anspornt, ist Mutter Beverley immer schon Last. Nach | |
dem Tod ihres Vaters rutscht sie immer mehr in die Drogenabhängigkeit ab, | |
verliert ihren Job als Krankenschwester, bietet den Kindern mit ständig | |
wechselnden Partnern kein stabiles Umfeld. Im Jetzt ist sie zornig, weigert | |
sich, schon wieder in die Entzugsklinik zu gehen, und nutzt die erstbeste | |
Gelegenheit für einen weiteren Rückfall. | |
Trotz allem zieht sich Vance nahezu am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Kurz | |
vor dem Abspann lässt „Hillbilly-Elegie“ seinen Protagonisten resümieren, | |
dass uns zwar die Familie zu dem mache, was wir sind, dass wir letztlich | |
aber „jeden Tag selbst entscheiden, wer wir werden wollen“. | |
Damit steht am Ende eine trügerische Verheißung, die die Politik aus der | |
Verantwortung entlässt und den Status quo legitimiert. Kritik an horrenden | |
Studiengebühren, die soziale Aufstiegschancen mindern, bleibt aus. An einem | |
Krankenversicherungssystem, das die Mutter einen Tag nach der Überdosis aus | |
der Klinik wirft, ebenso. Hungern in der Kindheit, kein Geld für | |
Schulmaterialien? Keine Ursache. Man muss sich nur anstrengen. Alle, die es | |
nicht schaffen, sind selbst schuld. | |
24 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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