# taz.de -- „Waiting for the Barbarians“ auf DVD: Abgründe des Empire | |
> Der Spielfilm „Waiting for the Barbarians“ von Ciro Guerra ist eine | |
> Romanverfilmung nach J. M. Coetzee. Jetzt erscheint er im Heimkino. | |
Bild: Zweierlei Arten von Macht: der Colonel (Johnny Depp) und der Magistrat (M… | |
Es ist spannend und aufschlussreich zu sehen, wie sich dieser Regisseur | |
stets neu erfindet, die verschiedensten Erzählformen ausprobiert, | |
eindrückliche Schauwerte nutzt, um sich an seinen Themen abzuarbeiten. Der | |
rote Faden durch die Filmografie des Kolumbianers Ciro Guerra ist die | |
Beschäftigung mit der destruktiven Macht des Kolonialismus. Schonungslos | |
zeigt er die Verrohung zwischenmenschlicher Beziehungen unter der | |
Besatzung, die Spuren und Narben, die auch das Leben nachfolgender | |
Generationen bestimmen. | |
[1][„Birds of Passage – Das grüne Gold der Wayuu“ (2018)] ist zum einen … | |
ethnografischer Film über die Riten eines in Kolumbien und Venezuela | |
lebenden indigenen Volkes. Und zum anderen ein spannungsgeladenes, in den | |
1970er Jahren spielendes Gangsterepos, das in der Weite einer unwirtlichen | |
kargen Gegend spielt, die von den Wayuu als das Land ihrer Ahnen bezeichnet | |
wird. | |
Die oralen Traditionen der Wayuus verbinden Ciro Guerra und seine | |
Co-Regisseurin Cristina Gallego mit einschlägigen Genremustern, um den | |
Überlebenskampf von Ureinwohner*innen in einer sich brutal wandelnden | |
kulturellen und sozialen Ordnung erzählen. Zum ersten Mal wird der Beginn | |
des Drogenkrieges aus indigener Sicht verhandelt. | |
[2][„Der Schamane und die Schlange“ (2015)] wiederum ist ein | |
psychedelischer Schwarzweiß-Trip auf dem Amazonas, der vor Augen führt, wie | |
ein Kompass den Alltag von Ureinwohnern aus dem Takt bringt – und wie die | |
Suche von Weißen nach Spiritualität in der Fremde auch eine kulturelle | |
Aneignung darstellen kann. Der deutsche Ethnologe, von dessen Reise in die | |
Tiefe des Regenwaldes hier unter anderem erzählt wird, könnte ein Geistes- | |
und Seelenverwandter des Magistrats aus Ciro Guerras jüngstem Film sein. | |
„Waiting for the Barbarians“ (2019) ist die Leinwandadaption von [3][J. M. | |
Coetzees] gleichnamigem Roman, dessen Handlung weder zeitlich noch örtlich | |
näher bestimmt ist. Es geht um ein wahrhaft kafkaskes Szenario: Im Gewand | |
eines klassisch anmutenden Historiendramas schildert Ciro Guerra die | |
Geschichte des Magistrats (Mark Rylance), der im Auftrag eines fiktiven | |
Empire an einem weit entfernten Grenzort stationiert ist. Er hat sich in | |
der Fremde eingerichtet und versucht, Frieden mit den Nomaden zu halten, | |
deren Gebiete vor den Toren der festungsähnlichen Stadt in der Wüste | |
liegen. | |
## Die Kultur der Nomaden studieren | |
Guerra zeigt den namenlos bleibenden Mann als gütig, weltoffen und ein | |
wenig unbedarft. Er studiert die Sprache, Schriftzeichen und Kultur der | |
Nomaden, verlässt dafür jedoch nur selten seinen Schreibtisch. Man könnte | |
von einer Annäherung sprechen, die eher theoretischer Natur ist. | |
So bleibt offen, wen der Magistrat eigentlich gegen den neu eintreffenden | |
Colonel Joll (Johnny Depp) und dessen ebenso brutal agierende rechte Hand | |
(Robert Pattinson) verteidigt: Sind es seine Ideen, Erkenntnisse über die | |
Nomaden? Oder geht es dem Magistrat um die gefangenen Nomaden, die auf | |
Anordnung des Colonels gequält und zum Lügen gezwungen werden, damit man | |
endlich Krieg gegen sie führen kann? Quasi als Wiedergutmachung wird der | |
Magistrat eine durch Folter erblindete Nomadin zu ihrem Stamm zurückbringen | |
und deshalb vom Empire als Verräter verfolgt. | |
„Waiting for the Barbarians“ ist ein bildgewaltiges Werk, das seine | |
Schauwerte als Vergrößerungsglas nutzt. Zum Vorschein kommen die Abgründe | |
einer Macht, die sich zwanghaft neue Feindbilder erschafft, um noch | |
mächtiger zu werden. Provozierend stellt der Film seine Künstlichkeit und | |
Kulissenhaftigkeit mit abstrahierendem Effekt aus. Unter der sengenden | |
Sonne wird die Wüste zur Weltbühne, auf der Menschen dem Gegenüber das | |
Menschsein absprechen und darüber ihre Menschlichkeit verlieren. | |
11 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anke Leweke | |
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