# taz.de -- Debatte in der Türkei um „Der Club“: Eine Jüdin in Istanbul | |
> Die Netflix-Serie „Der Club“ thematisiert die verhängnisvolle Politik | |
> Istanbuls gegenüber Minderheiten. In der Türkei ist sie ein Politikum. | |
Bild: Raus aus der Flittchen-Rolle: Gokce Bahadir als Matilda in „Der Club“ | |
Liebe, Sex, Verrat, Rache und eine kaputte Mutter-Kind-Beziehung im | |
Istanbul der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Dazu dicke | |
amerikanische Karossen, Neonlichter, legendäre Nachtclubs und leicht | |
bedeckte Revue-Frauen. Die jüngst angelaufene sechsteilige Netflix-Serie | |
„Der Club“ könnte sich in die Reihe populärer, historischer Melodramen | |
einordnen, bei welchen ein simpler Plot verbunden mit der prunkvollen | |
In-Bild-Setzung einer historischen Epoche schon den Erfolg beim Publikum | |
garantiert. | |
Doch die Serie ist eine außergewöhnliche Produktion. Neben detailverliebten | |
Einblicken ins jüdische Leben der fünfziger Jahre bietet sie etwas, das an | |
Tabus kratzt und Vergangenheitsbewältigung herausfordert. Die Serie ist zum | |
Politikum geworden. Noch nie war der grausame Umgang des Staats mit seinen | |
Minderheiten in einer populären türkischen Serie so präsent. | |
Viele Istanbuler Juden berichten, sie hätten bei der Serie geweint. So die | |
Kolumnistin der Zeitung Schalom, Selin Kandiyoti: „Emotionen sind | |
hochgekocht. Immer wenn ich ein jüdisches Element gesehen habe – ein Lied, | |
die Sprache, ein Requisit, ein Dekor –, bin ich in Tränen ausgebrochen.“ | |
Und viele junge Menschen der Mehrheitsgesellschaft, aufgewachsen mit | |
türkischen Filmproduktionen, in denen in Nebenrollen das [1][Bild des | |
hinterhältigen, reichen Juden] bedient wird, wurden erstmalig mit | |
wirklichkeitsnahen Bildern vom jüdischen Leben in Istanbul konfrontiert. In | |
der Türkei gehört „Der Club“ zu den meistgesehenen Serien auf Netflix. | |
„Der Club“ erzählt die Geschichte der Jüdin Matilda, die – wegen Mordes… | |
einer Gefängnisstrafe verurteilt – durch eine Amnestie freikommt, sich in | |
der Wäscherei eines Nachtclubs als Arbeiterin verdingt und mit dem schwulen | |
Solisten des Nachtclubs Freundschaft schließt. Es ist die Suche nach der | |
Tochter, die im Kinderheim aufgewachsen ist, die Suche nach der Wahrheit, | |
die uns zum Schluss auch die Motive liefert, warum Matilda einen Menschen | |
getötet hat: nicht im Affekt, sondern berechnend und ohne mit der Wimper zu | |
zucken. | |
## Zentrum jüdischen Lebens | |
Die Szenen [2][spielen in Beyoğlu] und dem angrenzenden Galata, die heute | |
Viertel sind, die, ihrer eigenen Geschichte beraubt, als Touristenkulisse | |
dienen. In den fünfziger Jahren waren sie Lebensmittelpunkt | |
nichtmuslimischer Bevölkerungsgruppen. So sind in den Rollen der Serie | |
Armenier (Agop), Griechen (Yannis, Tasula, Niko) und Juden (Matilda, David, | |
Raschel, Mordo) präsent. | |
Galata mit seinen Synagogen, jüdischen Kinder-, Altersheimen und Schulen | |
war das Zentrum des jüdischen Lebens. Die Mehrsprachigkeit – Griechisch, | |
Armenisch, Ladino – gehörte zum Alltag auf den Straßen und in den | |
Geschäften. | |
Gerade die Szenen, in denen in der Serie Ladino gesprochen wird, hat viele | |
Istanbuler Juden berührt. Die Muttersprache Ladino, oder korrekter das | |
Judeo-Espanol, ist die mittlerweile fast ausgestorbene Sprache der | |
sephardischen Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts von der Iberischen | |
Halbinsel vertrieben wurden. Das Spanisch des 15. Jahrhunderts wurde im | |
Laufe der Zeit mit türkischem Vokabular angereichert. | |
## Staatstreue und Subversion | |
Es war der osmanische Sultan Bayazıd, der die osmanische Flotte | |
ausschickte, um die vertrieben jüdischen Flüchtlinge aufzunehmen. Sowohl im | |
Osmanischen Reich als auch in der neu gegründeten Republik 1923 galten die | |
Juden (im Gegensatz zu Griechen und Armeniern, denen seit dem 19. | |
Jahrhundert antistaatliche Subversion unterstellt wurde) als „staatstreu“. | |
In den Synagogen waren Gebete, in denen dem osmanischen Sultan Bayazıd und | |
dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk gedacht wurde, gang und gäbe. | |
„Kayadez“ – „Lasst uns schweigen“ (Spanisch: callar – schweigen) wa… | |
geflügeltes Wort auf Ladino: die Überlebensstrategie der türkischen Juden. | |
Unvergessen sind historische Figuren wie der Publizist Moses Cohen | |
(Teilnehmer des Zionistenkongresses in Hamburg 1909), der zuerst | |
Fürsprecher panturkistischer Ideologie und später des türkischen | |
Nationalstaats wurde. 1928 veröffentlichte er mit dem provokanten Titel | |
„Die zehn Gebote“ eine vielbeachtete Streitschrift: „Türkisiere die | |
Namen!“, „Sprich Türkisch“, heißt es in den Geboten des Mannes, der sich | |
fortan den türkischen Namen Munis Tekinalp zulegte. | |
Welcher Streich der Geschichte, dass fast ein Jahrhundert später Menschen | |
aufgewühlt weinen, wenn sie erstmalig im Fernsehen, auf einer | |
Streaming-Plattform, ihre Muttersprache hören. | |
## Das große Trauma | |
1942 ist ein Trauma in der Geschichte der Istanbuler Juden. In dieses Jahr | |
fällt die Abweisung des jüdischen Flüchtlingsschiffes Struma in Istanbul, | |
das mit dem Tod von fast 800 Menschen endete. 1942 tritt auch, begleitet | |
von einer antisemitischen Hetzkampagne in den Medien, eine Vermögenssteuer | |
in Kraft. Auch Matildas Familiengeschichte ist eng mit dieser | |
Vermögenssteuer verknüpft. | |
Faktisch ist die Vermögenssteuer ein Instrumentarium, die Reichen der | |
religiösen Minderheiten zu enteignen und eine neue türkisch-muslimische | |
Kapitalistenklasse zu schaffen. Es sind Juden, Armenier und Griechen, deren | |
Existenzen durch horrende Besteuerung kaputtgemacht werden. | |
Wer nicht zahlen kann, kommt ins Arbeitslager: Steinbruch oder | |
Schneekehren. Das Lager Aşkale im Nordosten der Türkei (auch von den | |
Temperaturen her eine Art türkisches Sibirien), wo zeitweilig über 1.400 | |
Menschen interniert waren, ist ein Wendepunkt in der Geschichte der | |
türkischen Juden. | |
## Massenexodus nach Israel | |
„Dieses Gesetz ist ein Revolutionsgesetz. Hiermit erlangen wir die Chance | |
für wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die Fremden, die den Markt beherrschen, | |
müssen gehen. Den türkischen Markt werden wir den Türken geben“, schwärmte | |
Ministerpräsident Sükrü Saracoğlu bei der Verabschiedung des | |
Steuergesetzes. 369 Juden, 231 Griechen und 220 Armenier zählen zu den | |
Internierten in der Statistik von Aşkale. 21 Menschen starben im | |
Arbeitslager. | |
Die Vermögenssteuer blieb nur 16 Monate in Kraft. Doch sie zeigte Wirkung. | |
Zum Beispiel beim Massenexodus aus der Türkei nach der Gründung des Staates | |
Israel 1948. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts lebten 200.000 Juden im | |
Osmanischen Reich. Heute leben noch rund 15.000 Juden in der Türkei. Es | |
kommt nicht von ungefähr, dass 1992 die großzügig staatlich geförderte | |
500-Jahres-Feier zur Ankunft der sephardischen Juden in der Türkei („Das | |
gemeinsame Leben war so toll in den letzten 500 Jahren“) die Struma, die | |
Vermögenssteuer und Aşkale ganz einfach unerwähnt ließ. | |
Ausgerechnet eine Serie, die den populären Zuschauergeschmack trifft und im | |
mondänen Nachtleben der fünfziger Jahre angesiedelt ist, stellt die Sachen | |
vom Kopf auf die Füße. In bedrückenden Alltagsszenen wird uns deutlich, wie | |
das Gift des Antisemitismus und Rassismus politisch gefördert wurde. Etwa | |
wenn Politiker dem Nachtclubbesitzer den Preis „Unternehmer des Jahres“ | |
verleihen wollen. Als kleine Gegenleistung: Türkisieren Sie Ihre | |
Belegschaft! Der Armenier Agop, zuständig für die Bühnenbeleuchtung, wird | |
entlassen. | |
## Gegenentwurf zur Flittchen-Rolle | |
Fast beiläufig wird man Beobachter des gesellschaftspolitischen Klimas, das | |
schließlich in den Pogromen vom 6. und 7. September 1955 mündete, als die | |
Istanbuler Griechen zur Zielscheibe des Mobs wurden. | |
Bei der Thematisierung der staatlichen Politik gegenüber den Minderheiten | |
wird nie der Zeigefinger erhoben. Ganz undidaktisch kommt die Serie | |
daher. Es sind die kleinen Alltagsszenen, die uns das Gespür für die großen | |
Katastrophen vermitteln. Bemerkenswert, dass die Serie nicht in die Falle | |
tappt, die Juden als bemitleidenswerte Opfer darzustellen. | |
Mit Matilda haben wir eine Frau in der Hauptrolle, der der Schmerz ins | |
Gesicht geschrieben steht, die aber unablässig kämpft. Diese Figur ist ein | |
Gegenentwurf zur vielfach verbreiteten patriarchalischen, rassistischen | |
Geschichtserzählung, die nichtmuslimischen Frauen die Rolle des Flittchens | |
zuwies. So wird die Serie, die eine nostalgische Rückschau auf das | |
Istanbuler Nachtleben hätte sein können, revolutionär: Angehörige der | |
religiösen Minderheiten, allen voran die Frauen, erscheinen nicht mehr | |
degradiert zu hilflosen Objekten, sondern als bewusst handelnde historische | |
Subjekte. | |
14 Dec 2021 | |
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