# taz.de -- Antisemitismus in der Türkei: „Wie kann ich sicher sein?“ | |
> Am 15. November 2003 starben 28 Menschen bei Anschlägen auf zwei | |
> Synagogen in Istanbul. Nun verlassen immer mehr Jüdinnen und Juden das | |
> Land. | |
Bild: Die Aschkenasische Synagoge im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu steht unter … | |
Es gibt einen Leitspruch jüdischer Bürger*innen in der Türkei: „Wir mischen | |
uns nicht in die Regierungsgeschäfte ein.“ Dieser bekannte Satz im Ladino, | |
der Sprache der sephardischen Juden, beschreibt das Verhältnis der | |
jüdischen Bürger*innen zur türkischen Regierung. Wie viele Minderheiten auf | |
der Welt halten auch die Jüdinnen und Juden in der Türkei lieber Abstand | |
zur Obrigkeit, weil sie nicht anecken und ihren ruhigen Alltag gefährden | |
wollen. Also halten sie sich heraus aus der Politik. | |
Das hat gute Gründe: Immer wieder geraten die Jüdinnen und Juden zur | |
Zielscheibe antisemitischer Angriffe. Zum Beispiel 2017: Nachdem die | |
israelischen Behörden damit begonnen hatten, muslimische Gläubige vor dem | |
Eingang der Al-Aksa-Moschee, einer der heiligen Stätten des Islam, mit | |
einem Scanner zu durchleuchten, zog ein Mob vor die Ahrida-Synagoge in | |
Istanbul. Der „Verein des großen Osmanischen Reiches“ stellte ebenfalls | |
einen Metalldetektor auf und drohte: „Nach Vorschrift unserer Religion | |
haben wir ihnen Respekt, Gnade und Toleranz erwiesen. Jetzt aber sagen wir: | |
‚Es reicht.‘“ | |
Die Ahrida-Synagoge in Istanbul gehört zu den ältesten Wahrzeichen der | |
jüdischen Bevölkerung in der Türkei. Sie steht in Balat, dem einstigen | |
Judenviertel der Stadt mit Blick auf das Goldene Horn. Die Teva | |
(Tora-Lesepult) erinnert an einen Schiffsbug. Manche meinen, sie stehe | |
symbolisch für die osmanischen Galeeren, die einst die spanischen Jüdinnen | |
und Juden ins Osmanische Reich brachten, als sie 1492 aus Spanien | |
vertrieben wurden. | |
## Jüdische Bevölkerung wird zur Zielscheibe | |
Provokationen und Attacken wie der Mob vor der Synagoge sind für die | |
türkischen Juden und Jüdinnen nichts Neues. Immer wieder wurden sie Opfer | |
des Hasses: Unvergessen ist, als Nationalisten 1934 in Thrakien, einer | |
Region im europäischen Teil der Türkei, über viele Tage in mehreren Städten | |
und Dörfern mit überwiegend jüdischer Bevölkerung plünderten, raubten und | |
vergewaltigten. | |
1955 griff ein nationalistischer Mob unter anderem in Istanbul und Ankara | |
die griechische Minderheit an. Aber auch Armenier und Juden gerieten ins | |
Fadenkreuz. Am 6. September 1986 schließlich überfielen palästinensische | |
Terroristen die Neve-Schalom-Synagoge in Istanbul und ermordeten 25 | |
Gemeindemitglieder. 17 Jahre später, am 15. November 2003, wurden fast | |
zeitgleich Bombenanschläge auf die Neve-Schalom-Synagoge und auf die | |
Beth-Israel-Synagoge im Istanbuler Stadtteil Şişli verübt. 28 Menschen | |
starben. | |
Nun ist die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in der Türkei ernsthaft | |
bedroht. 1927 lebten noch über 81.000 jüdische Bürger*innen in der Türkei. | |
Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts schrumpfte die Zahl auf | |
rund 22.000. Inzwischen sind es nur noch 18.000 – und täglich werden es | |
weniger. | |
„In einigen Presseorganen ist Antisemitismus mittlerweile zum festen | |
Bestandteil der Berichterstattung geworden“, sagt Mois Gabay, 34, | |
Journalist bei Şalom, der einzigen jüdischen Zeitung in der Türkei. Vor | |
allem kochten antisemitische Ressentiments hoch, wenn das Thema Israel auf | |
der politischen Tagesordnung steht. | |
## Rechte und Linke einig beim Thema Israel | |
Die Hrant-Dink-Stiftung in Istanbul, benannt nach dem 2007 ermordeten | |
armenischen Journalisten, fand heraus, dass Jüdinnen und Juden in der | |
türkischen Berichterstattung über israelisch-palästinensische Konflikte mit | |
Gewalt gleichgesetzt und als Feindbild aufgebaut werden. Die israelische | |
Regierung und Armee würden mit dem Judentum gleichgesetzt, die jüdische | |
Bevölkerung gerate so zur Zielscheibe, heißt es im Bericht der Stiftung. | |
Zudem greifen auch in der Türkei jene antisemitischen Parolen, die seit | |
Jahrhunderten durch die Welt geistern: Juden seien eine „geheime Macht“, | |
Schuld an allem, was irgendwo schief läuft. Kurz: Sie seien eine Gefahr für | |
die Nation. | |
Der Hrant-Dink-Stiftung zufolge kommen antisemitische Berichte in | |
rechtsgerichteten Presseorganen wie den Zeitungen Yeni Akit oder Milli | |
Gazete sehr häufig vor. Allerdings finden sich auch in Blättern mit einem | |
linken Selbstverständnis antisemitische Äußerungen. „Wir beobachten, dass | |
sich beim Thema Israel die Ansichten rechter und linker Kreise decken“, | |
sagt Gabay. | |
Neben Presse, Radio und Fernsehen, sagt er, stacheln auch antisemitische | |
Äußerungen in den sozialen Medien die Bevölkerung auf. „Da siehst du, wie | |
deine Mitbürger*innen tatsächlich über dich denken, und du fühlst dich der | |
Gesellschaft entfremdet.“ Dennoch denkt Gabay nicht ans Auswandern. Er | |
liebt Istanbul, er geht in seiner Arbeit auf. Seiner Familie will er die | |
Mühen des Umzugs in ein anderes Land nicht zumuten. Wichtig ist für ihn | |
auch die türkische Sprache. „In dieser Sprache bin ich zu Hause“, sagt er. | |
## Keine Bürgerin zweiter Klasse | |
Andere denken nicht so. Rund 250 Menschen ziehen jedes Jahr nach Israel. | |
Eine davon ist die Psychologin Ceni Palti. Die 34-Jährige gehört zu den | |
Gründer*innen der Internetplattform „Avlaremoz“ („Wir werden reden“), … | |
sich den Kampf gegen den Antisemitismus in der Türkei auf die Fahnen | |
geschrieben hat. | |
Als Israel 2014 in der sogenannten Operation Schutzlinie mehrere | |
palästinensische Städte besetzte, fand Palti ihren Namen auf einer Liste | |
türkischer Jüdinnen und Juden auf Facebook. Ihr Titel lautete: „Die Diener | |
Israels in der Türkei und ihre jüdischen Hunde.“ Sie sagt: „Ich weiß nic… | |
wie der Macher der Seite auf mich gekommen ist, ich bin keine bekannte | |
Persönlichkeit.“ | |
Fortan fühlte sich Palti bedroht in der Türkei. „Wie kann ich sicher sein, | |
dass es sich bei dieser Person nicht um den Nachbarn von oben handelt? Ich | |
bin gegangen, weil ich an einem Ort sein wollte, an dem meine Identität | |
mich nicht zur Bürgerin zweiter Klasse macht.“ Doch ist Israel für | |
Emigrant*innen aus der Türkei ein sicherer Hafen? „Wer nach Israel geht, | |
kann sich wenigstens sicher sein, dass seine Kinder als Juden aufwachsen | |
und der Staat sich um die sozialen Belange kümmert“, sagt Gabay. | |
## Ein Bewusstsein für Antisemitismus entwickeln | |
Wer nach Israel auswandert, zahlt einen hohen Preis, glaubt Palti. Der | |
Preis, in der Türkei zu bleiben, sei aber höher. „Mir fällt hier manches | |
sehr schwer, aber ich gewinne meine Selbstachtung zurück, weil ich mich | |
nicht mehr beugen und abfinden muss“, sagt sie. | |
Mois Gabay fürchtet, dass bald nur noch rund 5.000 Juden in der Türkei | |
leben werden und viele Synagogen schließen müssen. Dabei gäbe es nach | |
seiner Ansicht eine Lösung, um den Exodus zu stoppen. „Hassverbrechen | |
müssten strafrechtlich verfolgt werden. Und die Gesellschaft müsste ein | |
Bewusstsein für Antisemitismus und den Holocaust entwickeln – etwa mit | |
besserem Schulunterricht.“ | |
Gabay erhebt seine Stimme, er ist eine Ausnahme. Viele andere schweigen | |
lieber, getreu ihrem uralten Grundsatz: „Wir mischen uns nicht in die | |
Regierungsgeschäfte ein.“ | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
Das neue Journal: Dieser Artikel ist im zweiten gazete-Journal erschienen. | |
Sie können das Magazin [1][unter diesem Link] bestellen oder als E-Paper | |
[2][hier im E-Kiosk] downloaden. | |
15 Nov 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://shop.taz.de/product_info.php?products_id=244710 | |
[2] /!114771/ | |
## AUTOREN | |
Serdar Korucu | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Istanbul | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte in der Türkei um „Der Club“: Eine Jüdin in Istanbul | |
Die Netflix-Serie „Der Club“ thematisiert die verhängnisvolle Politik | |
Istanbuls gegenüber Minderheiten. In der Türkei ist sie ein Politikum. |