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# taz.de -- Laura Cwiertnias Debütroman: Bildung kann tödlich sein
> Laura Cwiertnia erzählt in „Auf der Straße heißen wir anders“ über vi…
> Generationen einer armenischen Familie. Literarisch ist das eine
> Entdeckung.
Bild: Nachfahren des Genzoid: Menschen, die sich die Bilder ihrer getöten Verw…
Wie soll man eine Heimat finden, an einem Ort, an dem man noch nicht war?“
Diese Frage begleitet Avi schon sein ganzes Leben. Er ist in der Türkei
geboren, lebt in Bremen, fährt Taxi und hat armenische Wurzeln. Mit seiner
Tochter Karla reist er nach Armenien, um dort seiner Geschichte und seiner
Herkunft nachzugehen. Dazu gehört auch die Übergabe eines Erbstücks an eine
ihnen unbekannte Frau. Es ist ein Armreif aus reinem Gold, den seine Mutter
Maryam nach ihrem Tod hinterlassen hat.
„Auf der Straße heißen wir anders“, lautet der Titel des Debütromans von
Laura Cwiertnia. Die 34-jährige Schriftstellerin und Journalistin berichtet
aus eigener Erfahrung, wenn sie in ihrem Roman von vier Generationen einer
armenischen Familie erzählt. Laura Cwiertnia ist Tochter eines armenischen
Vaters und einer deutschen Mutter, wuchs in Bremen-Nord auf.
In ihrem Roman beschreibt sie, wie der türkische Völkermord an den
Armenier:innen im Jahr 1915 mit schätzungsweise 1,5 Millionen Toten das
Leben einer ganzen Familie verändert hat und wie dieses nationale Trauma
über Generationen hinweg auf ganz unterschiedliche Art bis heute
weitergetragen wird: durch Erinnerungen, durch Träume sowie durch Gefühle
wie Scham, Angst und Verzweiflung.
## Meryem statt Maryam
„Ich habe vor einigen Jahren selbst eine Reise nach Armenien mit meinem
Vater gemacht. Danach entstand die Idee, einen Roman über eine ähnliche
Spurensuche zu schreiben“, sagt sie bei einem persönlichen Treffen. Die
Protagonist:innen in ihrem Roman stammen, wie auch die Familie von
Laura Cwiertnia, aus Istanbul. In der Türkei nutzen sie auf der Straße
andere Namen als zu Hause: Meryem statt Maryam, Hüssein statt Hagop und Ali
statt Avi (Avedis). Warum? Weil sie Angst um ihr Leben haben. Das gilt auch
für andere Minderheiten in der Türkei, wie Zaza, Griechen und Kurden. Auch
sie dürften sich in diesem Roman wiederfinden. Alle, die ihre eigene
Sprache nicht sprechen, ihre Religion nicht ausüben sowie ihre Kultur und
Traditionen nicht pflegen durften oder konnten.
Zu Hause wird über diese Angst oft nicht gesprochen, was ebenfalls Thema in
diesem Roman ist. „Auch in meiner Familie blieben alle stumm“, sagt die
Autorin. Raum für dieses Schweigen gibt Cwiertnia auch ihren
Protagonist:innen. Eindrücklich zeigt die Autorin, wie schon wenige Worte
oder Gesten genügen, um Fragen nach der Vergangenheit im Keim zu ersticken.
Indem Laura Cwiertnia dieses Phänomen beschreibt und zu erklären versucht,
bricht sie selbst dieses Schweigen. Schon allein deshalb ist der Roman ein
wichtiges Werk. Aber auch erzählerisch ist er eine Entdeckung. Mit feinen
Beobachtungen, ohne kitschig oder anklagend zu werden, werden darin
Schicksal und Beziehungen von Tochter, Vater, Groß- und Urgroßmutter
aufgefächert.
## Was das Verbrechen mit Menschen macht
Die Familie ist arm, weil die Urgroßeltern während des Völkermords alles
verloren und nur ihr eigenes Leben gerettet haben. Ihre Großmutter darf
nicht lesen und schreiben lernen – aus Angst, dass Bildung tödliche
Konsequenzen haben könnte: Die Massaker an den Armenier:innen, die
Todesmärsche begannen damit, dass armenische Intellektuelle 1915 von
türkischen Milizen festgenommen, gefoltert und aufgehängt wurden.
„Ich wollte zeigen, was so grausame Verbrechen mit Menschen machen – über
Generationen hinweg. [1][Und was passiert, wenn die Täter diese Verbrechen
nicht anerkennen]“, sagt Cwiertnia. Die Türkei leugnet den Genozid bis
heute.
Die Autorin zeigt auch, wie nicht aufgearbeitete Verbrechen sich
wiederholen können. In ihrem Roman schildert sie die Nacht zum 7. September
1955 in Istanbul, als türkische Nationalisten die griechische Bevölkerung
attackierten und deren Geschäfte und Häuser zerstörten. „Irgendwann
schneiden wir euch allen die Kehle durch“, schreit ein Nachbar der
Protagonistin Maryam zu. [2][Opfer wurden in dieser Nacht nämlich auch
andere nichtmuslimische Minderheiten wie Armenier:innen und Jüd:innen.]
Auch die Großeltern der Autorin lebten zu diesem Zeitpunkt noch in
Istanbul.
## Jesiden, Kurden, Zaza und Aramäer
Parallel dazu begannen ausländische Arbeitskräfte, nach Deutschland zu
emigrieren. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wurde im Oktober 1961
unterzeichnet. Wer aus der Türkei kam, wird in Deutschland bis heute meist
als „türkischer Gastarbeiter“ gesehen. Was vielen verborgen blieb: Es kamen
auch Jesiden, Kurden, Zaza, Aramäer, Griechen und Armenier aus der Türkei
hierher. In der Hoffnung auf Arbeit – und ein sichereres Leben. Cwiertnia
versucht mit ihrem Roman auch auf literarischer Ebene das Thema
„Gastarbeiter:innen“ neu zu betrachten. Sie nimmt dabei vor allem Frauen in
den Fokus.
„Die deutsche Perspektive auf Gastarbeiter:innen ist bis heute
eindimensional. In vielen Berichten klingt es noch immer so, als seien vor
allem türkische Männer hierher gekommen. Doch es gab auch über 700.000
Frauen, die damals den gleichen Weg gegangen sind. Sie kamen oft allein,
wie auch meine Großmutter“, sagt sie.
## Dem Arbeitgeber ausgeliefert
Für ihre Recherche besuchte Cwiertnia Bibliotheken und Archive. Sie las
Zeitzeugenberichte, führte Gespräche mit Forscher:innen. Und sie traf sich
auch mit Frauen, die „von einer Stadt in die nächste, vom Wohnheim der
Schokoladenfabrik in Frankfurt in das der Taxifirma nach Bochum, von dem
Sechsbett-Zimmer der Fischfabrik in Kiel in die Arbeitswohnung der
Großküche nach Darmstadt“ umziehen, wie sie in ihrem Roman schreibt.
Es ist eine Art von Menschenhandel. Frauen mussten sich, wie auch die
Männer, bei ihrer Bewerbung vor deutschen Ärzten ausziehen, sich Blut und
Urin abnehmen lassen. Ihnen wurden ihre Pässe weggenommen. Während der
Dauer ihrer Arbeitsverträge sind sie ihrem Arbeitgeber ausgeliefert.
Im Roman heißt es: „‚Für euch Frauen stehen die Chancen besser.‘ Das ha…
der Mann vom Arbeitsamt damals zu ihr gesagt. ‚Euch kriegen die Deutschen
zum halben Preis.‘ Aber nur, wenn sie unverheiratet waren.“ Die damaligen
Vorfälle ähneln der heutigen Ausbeutung von Saisonarbeiter:innen aus
Osteuropa durch deutsche Arbeitgeber:innen.
## Istanbul, Jerusalem und Jerewan
So präzise und bildlich, wie die Orte, die Gerüche, der Geschmack des
Essens beschrieben sind, erinnert Laura Cwiertnias Roman an eine
literarische Reportage. Unterbrochen wird sie von einzelnen Episoden aus
dem Leben der Protagonisten, die in Bremen, Istanbul, Jerusalem und Jerewan
spielen und Kurzgeschichten ähneln. Die Leser:innen erfahren auf diese
Weise viel über die Hintergründe der Familie, während die
Protagonist:innen im Ungewissen bleiben.
Erhöht wird die Spannung auch deshalb, weil die Ereignisse nicht
chronologisch, sondern im Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart
erzählt werden.
Als Ich-Erzählerin schildert etwa die Tochter, Karla, wie sie Bremen-Nord
in den 1990er Jahren erlebt: Das Viertel ist, genau wie ihre Familie, von
Armut und Migration geprägt. Fünfzehnjährige trinken Wodka Lemon auf
Spielplätzen, fahren mit dem Linienbus herum, weil sie nichts anderes mit
ihrer Zeit anzufangen wissen.
## Von ihrer Familie inspiriert
Wie weit sich Laura Cwiertnia selbst von ihren Protagonist:innen
distanziert, möchte sie nicht verraten. Jedoch sei die Vorlage für den
Roman ihre Familiengeschichte. „Vieles, was sich im Roman abspielt, ist von
meiner Familie inspiriert, die Handlung hat sich jedoch beim Schreiben weg
entwickelt“, sagt sie.
Hat sie während ihres Schreibens auch ein Stück Heimat gefunden? „Ich habe
viele verschiedene Orte, an denen Puzzleteile meiner Identität zu finden
sind. Von Bremen-Nord, wo ich groß geworden bin, über die Türkei bis nach
Armenien.“
Trotz der Schwere der Themen, die darin verhandelt werden, ist „Auf der
Straße heißen wir anders“ kein düsterer Roman. Im Gegenteil, er lässt die
Leser:innen immer wieder aufatmen, manchmal sogar schmunzeln. Das hat
vor allem mit der Figur des Vaters zu tun. Avi, der Taxifahrer aus
Bremen-Nord, ist ein Armenier, der seine Heimat verloren hat, ohne je eine
gehabt zu haben.
## Armenien ist ihnen fremd
Er verkörpert einen der über sieben Millionen in der ganzen Welt
verstreuten Armenier:innen. Ihre Vorfahren wurden ihrer Heimat beraubt,
weil dieser Völkermord auf dem historischen Gebiet Armeniens geschah. Daher
ist die heutige Republik Armenien im Südkaukasus, die Teil der Sowjetunion
war und 1991 unabhängig wurde, für diese Diaspora-Armenier:innen oft
fremd.
Und doch finden Vater und Tochter im Roman einen Zugang zu ihrer
armenischen Identität – und zueinander. Auf ihrer Reise durch Armenien,
zwischen Kirchen und Klöstern, Traditionen und „dem heiligen Berg“ Ararat,
von dem Avi und seine Tochter Karla fasziniert sind. Der Berg, der sich
hinter der armenischen Grenze in der Türkei erhebt, ist längst zu einem
Symbol für die verlorene Heimat der Armenier:innen geworden. „Wusstest
du, dass man unseren Berg auf Türkisch Ağrı nennt?“, fragt Avi seine
Tochter. Dann übersetzt er: „Das bedeutet Schmerz.“
8 Aug 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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