# taz.de -- Migrationsmuseum in Berlin geplant: Ein Zeichen des Respekts | |
> Ahmet İyidirli sammelt alles, was mit der Geschichte der | |
> Gastarbeiter*innen zu tun hat. Dieses Archiv sollte der | |
> Öffentlichkeit zugänglich sein. | |
Bild: Als 18-jähriger Student kam Ahmet İyidirli 1975 nach Westberlin | |
BERLIN taz | „Die Koalition will der Einwanderung des 20. und 21. | |
Jahrhunderts einen höheren Stellenwert in der gemeinsamen Erinnerungskultur | |
geben“, steht im [1][Koalitionsvertrag der neuen Berliner Regierung]. Was | |
sie sich darunter vorstellt? Bis Ende 2023 soll ein Konzept für eine | |
„angemessene museale Würdigung und Darstellung“ erarbeitet werden. | |
Neben Ausstellungen bedeutet das vor allem eins: die Einrichtung eines | |
Migrationsmuseums in Berlin. Im Wahlprogramm der Landes-SPD klang das | |
schärfer, in „Respekt und Anerkennung vor unserer Einwanderungsgeschichte | |
und der Lebensleistung der sogenannten | |
Gastarbeiter:innengeneration“ wolle sich die Berliner SPD dafür | |
einsetzen, ein Migrationsmuseum aufzubauen. Ein Neubau also. Allerdings | |
steht jetzt im Koalitionsvertrag, dass man solch eine Einrichtung „prüfen“ | |
werde. Prüfen heißt nicht machen, und so stellt sich die Frage: Kommt solch | |
ein Museum? Und wenn ja, in welcher Form? | |
Für Ahmet İyidirli, türkeistämmigen SPD-Politiker und langjährigen | |
Vorsitzender der sozialdemokratischen Migrantenselbstorganisation HDB in | |
Berlin, ist das Festschreiben solch eines Museums im aktuellen | |
Koalitionsvertrag erst einmal prima. Doch er wiegelt ab: Ob und wie es in | |
dieser Legislaturperiode kommen werde, sei noch nicht klar. | |
İyidirli und seinen Mitstreiter*innen in der SPD, wie der frisch | |
gewählten Abgeordnete Sevim Aydin – die sich zudem für ein | |
Gastarbeiterdenkmal in ihrem Wahlbezirk Kreuzberg, einsetzt – schwebt ein | |
Museum mit einem öffentlichen Dokumentationszentrum vor. Bloß keine | |
Anbindung an ein bestehendes Museum und bitte auch keine Ausstellungsfläche | |
irgendwo in einem Museum der Stadtgeschichte. Viel zu wenig sei die | |
Geschichte dieser Menschen gewürdigt worden, die nicht nur aus der Türkei, | |
sondern auch aus Ländern wie Portugal, Griechenland und Italien in diese | |
Stadt kamen und sie nachhaltig prägten. | |
## Die Idee gärt schon länger | |
Bereits 2019 hatte Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) nach einem | |
Besuch [2][des National Immigration Museum] auf Ellis Island in den USA ein | |
solches Museum für Berlin gefordert. Aber so richtig angepackt hat das | |
Ganze damals kaum jemand. | |
Die Idee gärt also schon länger, vor allem bei der ersten Generation, der | |
İyidirli angehört. Er merke, dass ihm die Zeit weglaufe, weil viele | |
Zeitzeugen alt und krank sind und ihre Geschichten es vielleicht nicht | |
schaffen könnten, in einem solchen Archiv der Erinnerungen dokumentiert zu | |
werden, so İyidirli. | |
Wie einige wenige seiner Generation bewahrt der 65-jährige Kreuzberger mit | |
dem wachem Blick und einem markanten Schnurrbart alles auf, was mit der | |
Geschichte seines Vereins, der in den 1970er Jahren gegründet wurde und als | |
Anlaufstelle für die sogenannten Gastarbeiter*innen in diesem Land | |
fungierte, zu tun hat: mehrsprachige Zeitschriften, Flugblätter, Plakate | |
mit politischen Forderungen, viele Fotos und sogar bunte Vereinswimpel. | |
Seitdem er in Berlin lebt – also seit 1975, als er als 18-jähriger Student | |
in West-Berlin ankam –, ist İyidirli politisch aktiv und Sozialdemokrat. | |
Auch wenn heute nur wenige, auch Türkeistämmige, mit seinem Verein HDB, der | |
Progressiven Volkseinheit der Türkei in Berlin, oder ihrem europäischen | |
Dachverband HDF etwas anzufangen wissen: Die politischen Vereine und | |
Migrantenselbstorganisationen waren in den 1970ern, in denen sie gegründet | |
wurden, nahezu überlebenswichtig für die hiesige türkeistämmige Minderheit. | |
Beratungen, politische Kundgebungen, aber auch Lesungen machten diese | |
Vereinsarbeit aus. | |
## „Ich bin nicht der Einzige, der sammelt“ | |
„Wir sind in ganz Deutschland vielleicht eine Handvoll Leute, die sich mit | |
der Geschichte und der Archivierung von Erinnerungen der Gastarbeiter | |
kümmern“, erzählt İyidirli. Diese Archivmaterialien seien eine Rarität, | |
denn die Mehrzahl der Menschen beabsichtigte nicht, auf lange Zeit hier zu | |
bleiben – und bewahrte deshalb verständlicherweise kaum etwas auf. Trotzdem | |
glaubt er, dass es, wenn es erst solch ein Museum geben sollte, sich viele | |
mit eigenen Geschichten, Fotos und Erinnerungen melden würden. Diesen | |
Schatz zu heben, um zu zeigen, was 60 Jahre Migrationsgeschichte für diese | |
Stadt bedeuten, ist ihm ein Anliegen, seit Jahren. | |
Deshalb stehen in seiner Kreuzberger Altbauwohnung mit hohen Decken von | |
Wand zu Wand meterhohe Regale mit sorgsam eingebundenen Zeitschriften von | |
linken türkischen und kurdischen Migrantenselbstorganisationen. Auch sein | |
Keller sei voll, erzählt er, während er liebevoll Boxen aus den Regalen | |
nimmt und darin kramt: Fotos kommen zum Vorschein, Vereinstreffen, Feste | |
und Veranstaltungen. In einem Neuköllner Lagerhaus gebe es sogar noch eine | |
weitere vollgestopfte Lagerbox, erzählt er. „Und ich bin nicht der Einzige, | |
der sammelt, wie gesagt!“ All das wird verborgen bleiben, wenn sich kein | |
Ort findet, um dieses gesammelte Wissen zu heben und der interessierten | |
Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. | |
Als Student war İyidirli kein klassischer Vertreter der hiesigen ersten | |
Generation der Arbeitsmigrant:innen. Doch war er von Beginn an Begleiter, | |
Unterstützer und politischer Weggefährte für viele Fabrikarbeiter:innen | |
aus der Türkei, die ab 1961 mit der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens | |
zwischen der Türkei und Deutschland kontinuierlich kamen. | |
„Am Anfang der 1960er Jahre wurden ja die Anwerbeabkommen mit Italien, | |
Griechenland, Spanien und Portugal beschlossen.“ Viele Linke und | |
Oppositionelle seien so nach Deutschland gekommen. „Sie wussten, wie man | |
sich organisiert und politisch arbeitet“, fasst İyidirli diese Zeit | |
zusammen. Die „Gastarbeiter“ hätten sich nicht erst politisiert: „Das | |
politische Bewusstsein ist nicht das Produkt von Deutschland.“ | |
## Ein Ort zum reflektieren | |
Das Interesse an dem Wissen der ersten Generation der Migrant*innen aus | |
dem Ausland sei größer als hier in Deutschland. „Seit den 2000er Jahren | |
besuchen mich jährlich Forscherinnen und Forscher aus den USA, Kanada und | |
Japan.“ Die deutsche Migrationsforschung stecke da noch in den Anfängen. | |
„Natürlich könnte die deutsche Seite sagen, wir lieben unsere Migranten so | |
sehr, wir machen jetzt ein Museum für sie auf. Das wäre dann der Blick: So | |
sehen wir unsere Migranten, wie schön wir doch nebeneinander gelebt haben.“ | |
Nein, ihm und vielen anderen ist es wichtig, sich dafür einzusetzen, dass | |
es einen angemessenen Ort gibt. Besonders um die migrantischen politischen | |
Kämpfe im damaligen Westberlin darzustellen. „Wem soll dieses Museum | |
dienen? Den Deutschen, um ihnen ein Stück ihrer eigenen Geschichte zu | |
zeigen? Oder den Migranten und ihren Nachfahren, um einen eigenen Blick auf | |
ihre Geschichte werfen zu können?“ | |
Am besten wäre wohl ein Museum, „wo Migrantinnen und Migranten erzählen, | |
reflektieren und sich hinterfragen können“, so İyidirli. Vor allem wäre ein | |
solches Museum ein Zeichen des Respekts. | |
11 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Rot-gruen-roter-Koalitionsvertrag/!5815671 | |
[2] https://www.statueofliberty.org/ellis-island/national-immigration-museum/ | |
## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
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