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# taz.de -- Roman über Nachwirken des Genozids: Bleibende Erinnerungen
> Die Großmutter eine Überlebende, der Großvater ein Profiteur des Genozids
> an den Armeniern. Marc Sinans Debütroman „Gleißendes Licht“.
Bild: Aufgenommen etwa 1915: Das Bild zeigt armenische Kinder, die den Genozid …
Aghet – die große Katastrophe. So nennen die Armenier das Trauma, welches
ihr historisches Selbstverständnis bis heute prägt. Am 24. April 1915
begann mit der Deportation der armenischen Elite aus Konstantinopel deren
Genozid im Osmanischen Reich. Rund 1,5 Millionen Menschen fielen ihm zum
Opfer. International aufgearbeitet, bleiben die barbarischen Geschehnisse
von 1915 im Lande selbst tabuisiert. Jeder Versuch, sie zur Sprache zu
bringen, trifft auf den erbitterten Widerstand des türkischen Staates.
Wer die zeitgenössischen Versuche sichtet, diese unaufgearbeitete
Geschichte ästhetisch zu verarbeiten, kommt an dem Künstler Marc Sinan
nicht vorbei. Genau dieses Motiv steht nämlich im Mittelpunkt des Werks des
1976 geborenen Musikers und Komponisten.
Sinans Musikprojekt „Aghet“ von 2016, das den Völkermord zum Thema hat,
löste einen Eklat aus. Staatspräsident Erdoğan forderte die EU auf, die
Förderung für das Stück zurückzuziehen. Das deutsche Generalkonsulat in
Istanbul sagte eine geplante Aufführung ab.
Tief prägt das Aghet-Trauma die kollektive wie die individuelle Erinnerung.
Sinan sagt von sich selbst, er sei in einer Familie aufgewachsen, in der
ihm gesagt wurde, [1][er dürfe nicht darüber sprechen, dass er Armenier
sei.] An diesem Schweigegebot setzt sein kürzlich erschienener Debütroman
an. Im Mittelpunkt von „Gleißendes Licht“ steht der junge Kaan, ein
ehrgeiziger Gitarrist und Komponist türkischen Hintergrunds – erkennbar ein
Alter Ego seines Autors. In ihm laufen gleichsam alle neuralgischen Fäden
der türkischen Geschichte zusammen.
## Ungleiches Ehepaar
Kaans Mutter Nur verließ einst die Türkei, weil sie ihrer chauvinistischen
Gesellschaft entfliehen wollte. Bei den Reisen zu seiner Familie in die
Türkei erfährt ihr Sohn, dass seine Großmutter Vahide armenischer
Abstammung ist. Ihr Mann Hüseyin wiederum gelang als Profiteur [2][des
Genozids an den Armeniern] der Aufstieg zum erfolgreichen
Haselnuss-Unternehmer an der Schwarzmeerküste.
Sinans Roman entwickelt sich nicht linear. In schnellem Tempo springt der
Autor zwischen unterschiedlichen Zeitebenen. Mal ist der Schauplatz die
Kleinstadt Trabzon am Schwarzen Meer, wo seine Großeltern leben. Mal spielt
der Roman im München am Ende der achtziger Jahre, wo Kaan aufwuchs, mal
2022 in der deutschen Künstlerakademie Villa Tarabya in Istanbul, wo der
Protagonist als inzwischen bekannter Künstler ein Stipendium absolviert.
Bei Trabzon stößt Kaan auch auf das Kloster, in dem der legendäre Komponist
Komitas Vardapet logierte, der ebenfalls dem Genozid zum Opfer fiel und
dessen Kunst Kaan nacheifert.
Sinan zieht seinem Roman zudem eine symbolische Ebene ein, wenn er Kaans
Geschichte mit dem Mythos des Tepegöz parallelisiert. Ein Stoff, den der
Autor 2014 mit seinem dokufiktionalen Musiktheater „Heldenerzählungen des
Dede Korkut“ am Berliner Maxim Gorki Theater dramatisiert hatte.
Die Saga von dem einäugigen Monster, Produkt der Vergewaltigung einer
Nymphe des Hirtenvolks der Oghusen, das sein eigener Bruder ermordet, wird
zum Symbol der blutigen Verstrickungen von Gewalt und Geschichte in der
Türkei. Sie wird auch zur Folie der Rachefantasien Kaans, die ihn schon
oft im Traum heimsuchten.
## Traum von der Post-Erdoğan-Ära
Folgerichtig steuert der Roman auf einen dramatischen Höhepunkt zu, als der
türkische Präsident Erdoğan, dessen Istanbuler Dienstvilla direkt neben der
Villa Tarabya steht, während Kaans Aufenthalt dort zu einem Sommerfest
lädt. Für die Post-Erdoğan-Ära – die in der Realität jetzt nach den
Präsidentschaftswahlen wieder in die Ferne gerückt ist – erträumt sich der
Künstler ein Land, in dem statt des obligatorischen Schulgebets: „Ne mutlu
Türküm diyene – Wie glücklich ist derjenige, der sagt, ich bin ein Türke�…
das Motto „Ne mutlu insanım diyene – Stolz ist derjenige, der sich Mensch
nennt“ gilt.
In puncto Ambition steht Kaans Autor seinem erfolgsbesessenen Helden in
nichts nach. An derselben Polyphonie, die schon Sinans gleich betiteltes
Oratorium „Gleißendes Licht“ prägte – simultan im vergangenen Herbst in
Jena, Buchenwald, Berlin und Tel Aviv uraufgeführt, stellte er damit die
Frage nach den Mechanismen der nationalsozialistischen
Vernichtungsmaschinerie –, versucht sich der Komponist nun literarisch.
Unausgereift wirkt in dem Roman „Gleißendes Licht“ leider nur Sinans
Erzählweise. Die Reflexionen des Ich-Erzählers haben oft etwas Atemloses.
Und die anderen auftretenden Protagonist:innen, seine Großmutter oder seine
Ex-Freundin Zizi etwa, bleiben Schemen. Für die Gleichzeitigkeit von
Vergangenheit und Gegenwart, für das Bedürfnis von Erinnern, Liebe und
Rache in der Psyche derjenigen, die sich in dem traumatischen Dreieck
zwischen Deutschland, der Türkei und Armenien bewegen, hat der Autor aber
eine angemessene Komposition gefunden.
Nicht zuletzt lässt er mit seinem Debüt seinen Helden das Vermächtnis
seines Großvaters Hüseyin erfüllen: „Schreib endlich die Geschichte auf,
Kaan. Schreibe, damit du sie vergessen kannst!“ Es ist diese Kombination
von politischer, experimenteller und mnemonischer Ästhetik, die den
Komponisten Sinan zu einem spannenden Autor macht.
30 May 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Türkei
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Theater
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