# taz.de -- Verfahren gegen Attentäter eingestellt: Behörden ließen den Mob … | |
> Beim Pogrom von Sivas 1993 starben 37 Menschen. Dass die türkische Justiz | |
> das Verfahren dazu einstellt, ist für die Angehörigen schwer zu | |
> verstehen. | |
Bild: Türkische Aktivisten und Oppositionelle erinnern an das Attentat, hier b… | |
Es sind Szenen, die viele Leute in ihrem gesamten Leben nie vergessen | |
werden. Ein wütender Mob von mehreren Tausend Menschen drängt schreiend und | |
mit erhobenen Fäusten auf ein relativ unscheinbares Haus vor. | |
Dann fliegen Steine und Molotowcocktails. Fensterscheiben gehen zu Bruch, | |
ein Angreifer schwingt sich von den Schultern seiner Kumpane durch eines | |
der zerbrochenen Fenster und platziert unter dem Beifall des Mobs mehrere | |
Brandsätze im Innern des Gebäudes. In Sekunden steht das gesamte Haus in | |
Flammen. Die Folgen sind dramatisch. [1][37 Menschen werden getötet, über | |
50 schwer verletzt]. | |
Das Haus war ein Hotel, in dem die Gäste eines Kulturfestivals | |
untergebracht waren, das vor 30 Jahren, Anfang Juli 1993, in der | |
zentralanatolischen Provinzhauptstadt Sivas stattfand. Wie jedes Jahr bis | |
dahin feierte die alevitische Gemeinde der Türkei ihr „Pir Sultan Abdal | |
Kulturfestival“, um des Dichters und alevitischen Freiheitshelden Pir | |
Sultan Abdal zu gedenken, der im 15. Jahrhundert in einem Dorf bei Sivas | |
gelebt hatte. | |
Eingeladen waren Literaten, Poeten und Musiker. Zu den Gästen gehörte auch | |
der Schriftsteller Aziz Nesin, ein streitbarer Mann für die Freiheit des | |
Wortes, der kurz zuvor eine türkische Übersetzung der „Satanischen Verse“ | |
von [2][Salman Rushdie] herausgegeben hatte. | |
## Islamische Hetze | |
In den Tagen vor dem Pogrom hatte die islamische und nationalistische | |
Presse bereits gegen das Festival und insbesondere die Teilnahme von Aziz | |
Nesin gehetzt. Doch der Angriff auf die Festivalteilnehmer galt nicht nur | |
Aziz Nesin. | |
Für sunnitische Islamisten sind die Mitglieder der alevitischen | |
Religionsgemeinschaft schlimme Häretiker und viele Nationalisten hassen die | |
Aleviten, die sie als linke Verräter an der Türkei denunzieren. Zwar konnte | |
der mittlerweile verstorbene Aziz Nesin damals leicht verletzt aus dem | |
Inferno im Madimak Hotel entkommen, dennoch war der Schock wegen der vielen | |
Opfer groß. | |
Vor wenigen Tagen hat nun die türkische Justiz nach 30 Jahren einen | |
Schlussstrich unter die juristische Aufarbeitung des Pogroms gezogen. Gegen | |
[3][die letzten Angeklagten, die seit Jahren unbehelligt in Deutschland | |
leben], wurde das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Im Gerichtssaal | |
und draußen vor dem Gericht konnten die BesucherInnen des Prozesses im | |
Schwurgericht in Ankara es zunächst kaum glauben. | |
Die Anwälte der Angehörigen der Ermordeten hatten immer wieder darauf | |
gepocht, dass ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht | |
verjähren darf, doch der Staatsanwalt sah es anders. Er beantragte die | |
Einstellung des Verfahrens und das Gericht folgte ihm. Auch ein spontaner | |
Sitzstreik im Gerichtssaal nutzte da nichts mehr. Der Richter ließ den Saal | |
durch die Polizei räumen. | |
## Aleviten fühlen sich schutzlos | |
Das Pogrom von Sivas hat tiefe Spuren bei vielen der rund 20 Millionen | |
Aleviten in der Türkei hinterlassen. Vor allem das Verhalten der Behörden, | |
angefangen bei Polizei und Feuerwehr, die den Mob damals stundenlang | |
gewähren ließen, bis zu den Gerichten, die am Ende nach Auffassung der | |
Aleviten nicht für Gerechtigkeit sorgten, bestätigte die alevitischen | |
Gemeinden in ihren Befürchtungen, vom Staat nicht nur nicht geschützt zu | |
werden, sondern geradezu mit staatlicher Komplizenschaft verfolgt zu | |
werden. | |
Denn das Pogrom von Sivas, bei dem 33 Gäste des Kulturfestivals starben und | |
zwei Hotelangestellte und zwei Angreifer ebenfalls den Tod fanden, war kein | |
Einzelfall, sondern steht in einer langen Reihe von Angriffen auf die | |
alevitische Minderheit seit den frühen Tagen des Osmanischen Reiches. | |
Damals, während der Kämpfe mit den Persern, wurden sie als 5. Kolonne der | |
Schiiten angesehen und verfolgt, später als Abweichler von der Linie des | |
sunnitischen Islam angegriffen und weil viele Aleviten sich deswegen | |
mehrheitlich säkularen, linken Parteien anschlossen, von den Rechten als | |
Verräter beschimpft. | |
Das führte dazu, dass politische Hinterleute erst gar nicht belangt wurden, | |
aber auch das jahrelange juristische Tauziehen um die dann tatsächlich | |
Angeklagten hat viele Aleviten frustriert. Von den Tausenden Angreifern | |
wurden insgesamt 124 Personen angeklagt und in erster Instanz 87 davon zu | |
Haftstrafen zwischen zwei und 15 Jahren verurteilt. Alle Fälle gingen in | |
Berufung, erst mal musste kaum jemand ins Gefängnis. Etliche Angeklagte | |
flüchteten ins Ausland, die meisten davon nach Deutschland. | |
## Angeklagte hielten sich in Deutschland auf | |
Recherchen türkischer Medien ergaben, dass sich zeitweilig mindestens 27 | |
Angeklagte aus dem Sivas-Prozess in Deutschland aufhielten. Es folgte ein | |
jahrelanges Gerangel um die Auslieferung der Angeklagten. Deutsche Behörden | |
machten geltend, dass bis 1998 bei den oberen Gerichten in schweren | |
Strafsachen noch ein Militär den Vorsitz führte und außerdem die | |
Todesstrafe noch nicht formal abgeschafft war. | |
Doch auch eine Justizreform und die Abschaffung der Todesstrafe im Jahr | |
2000 brachte die Auslieferungsverfahren kaum weiter. Mittlerweile hatten | |
mindestens sieben der Sivas-Angeklagten Asyl beantragt, vier von ihnen auch | |
Asyl erhalten. Lediglich einen der Haupttäter, Hayrettin Gül, der als | |
Brandstifter identifiziert werden konnte, lieferte Deutschland zu Beginn | |
der Nullerjahre aus. Er wurde zu lebenslanger, erschwerter Haft verurteilt. | |
Bei allen anderen kam die türkische Justiz nicht weiter, auch weil die | |
jeweiligen Regierungen, vor allem nach dem Amtsantritt der ersten | |
Erdoğan-Regierung 2003, bei den Verfahren kaum Druck machten. Immer wieder | |
tauchten in den türkischen Zeitungen Meldungen auf, dass gesuchte | |
Sivas-Angeklagte in Deutschland identifiziert worden seien, doch die | |
deutschen Behörden taten nichts, und so verliefen sich die Spuren wieder. | |
Oft tauchten die Sivas-Angeklagten im Milieu der Milli-Görüs Moscheen in | |
Deutschland unter. | |
Schon 2005 beklagte der damalige Präsident des Alevitischen | |
Gewerkschaftsbundes in Deutschland, Turgut Öker, die Tatenlosigkeit der | |
Behörden. „Die Angeklagten im Sivas-Prozess werden nicht ausgeliefert, weil | |
ihnen angeblich Folter droht, was völlig abwegig ist“, sagte er. „Wie | |
können die Täter des Massakers sich frei in Deutschland bewegen?“ | |
## Informanten in der islamischen Szene? | |
Vor allem Abgeordnete der Grünen und Linken, meist solche mit türkischem | |
Migrationshintergrund, empörten sich darüber, dass mutmaßliche Sivas-Täter | |
in Deutschland offenbar Schutz genossen. 2019 kam noch einmal Bewegung in | |
die Sache, als der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer | |
Bewertung des Vorgangs feststellte, dass neun in Deutschland lebende | |
Personen, die an dem Sivas-Massaker beteiligt gewesen sein sollen, aufgrund | |
der Schwere der Anschuldigungen entweder ausgeliefert oder ersatzweise auch | |
in Deutschland angeklagt werden könnten. | |
Als dennoch nichts passierte, sagte der frühere Grünen-Abgeordnete Mehmet | |
Kiliç dem türkischen Nachrichtenportal T-24, er vermute, dass die Leute als | |
Informanten in der islamistischen Szene eingesetzt werden und sich ihre | |
Spuren deshalb immer wieder verlieren. | |
Zuletzt standen noch drei Angeklagte, die in Deutschland lebten, auf der | |
Liste des Ankaraner Gerichts für schwere Straftaten. Im Juli dieses Jahres | |
war die Verjährungsfrist von 30 Jahren abgelaufen. Mehrmals hatte das | |
Gericht das türkische Außenministerium auf die Verjährungsfrist hingewiesen | |
und gebeten, in Deutschland auf die Auslieferung zu drängen. Angeblich, so | |
hieß es, seien die Personen nicht aufzufinden. Vor gut einer Woche zog das | |
Gericht nun einen Schlussstrich und stellte die Verfahren ein. | |
Präsident Erdoğan hatte kurz zuvor schon die Richtung vorgegeben. Am 6. | |
September begnadigte er den Haupttäter Hayrettin Gül, den einzigen | |
Sivas-Angeklagten, den die deutschen Behörden ausgeliefert hatten, wegen | |
seines „schlechten Gesundheitszustandes“. Eine Dankesbezeugung gegenüber | |
der islamistischen Szene, wie einer der Nebenkläger im Sivas-Prozess, | |
Mehmet Karaba vermutet. „Seit 30 Jahren spielen sie das Massaker herunter | |
und machen drei, vier oder fünf Schakale dafür verantwortlich. Dabei war es | |
ein vom Staat inszeniertes Pogrom.“ | |
25 Sep 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
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