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# taz.de -- Regisseur Nadav Lapid: „Ich zelebriere das Gute und das Böse“
> Der israelische Regisseur Nadav Lapid spricht über entwaffnende Bilder
> und die Schönheit von Soldatenkörpern in seinem Spielfilm „Aheds Knie“.
Bild: Y, gesprochen „Yud“, (Avshalom Pollak) und Yahalom (Nur Fibak, rechts…
Mit seinem rastlosen Film „Synonymes“ traf der israelische Regisseur
Nadav Lapid 2019 einen Nerv und wurde auf der Berlinale mit dem Goldenen
Bären ausgezeichnet. In seinem vierten Spielfilm, „Aheds Knie“, spitzt er
seinen virtuosen, autobiografisch geprägten Inszenierungsstil weiter zu.
Lapid verbindet starke ästhetische Verfremdungen mit einer Selbstreflexion
zu seiner Rolle als Künstler und scharfen Kommentaren zur israelischen
Gesellschaft.
taz: Herr Lapid, Ihr Film „Aheds Knie“ ist inspiriert durch die
[1][bekannte palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi], die schon als Kind
bei Angriffen auf israelische Soldaten gefilmt wurde. Am Anfang Ihres Films
wird sie durch verschiedene Darstellerinnen verkörpert.
Nadav Lapid: Im Film gibt es einen spielerischen Umgang mit Ahed Tamimi.
Wir haben mit Perücken gearbeitet, hatten eine schwarzhaarige und eine
blonde Ahed Tamimi. Sie ist eine Gestalt in diesem Film, keine konkrete
Person. Als symbolische Figur verweist sie einerseits auf ganz konkrete
politische Umstände, andererseits auf die Logik von Mythen und Legenden. In
Frankreich ist Jeanne d’Arc eine Heldin der Rechten, aber natürlich
existiert sie in einer anderen Zeit. Sie hat niemals eine Position zu
Marine Le Pen einnehmen können. Figuren wie sie und auch viele Bilder
lassen sich rein argumentativ nicht aufschlüsseln. In meinen Filmen
interessiere ich mich für Bilder, die Argumente auf den Kopf stellen,
einfache Urteile in Frage stellen und die das Publikum letztlich
entwaffnen.
In „Aheds Knie“ erzählen Sie von einem Alter Ego, einem Filmemacher namens
Y., der sich als teuflisch bezeichnet. In welchem Verhältnis steht er zu
Ihnen?
Er hält im Film einen langen Monolog, direkt in die Kamera, um sich von der
eigenen Vergangenheit zu befreien. Wie bei einer Teufelsaustreibung gerät
er in eine Art Trance und konfrontiert innere Dämonen. Wie bei
[2][Polanskis] „Rosemary’s Baby“ steckt der Teufel im Innern, ist Teil
seines Selbst. Doch wenn er ihn ausspuckt, verliert er sich selbst. Sein
Kampf hat viel mit der Idee der Identität an sich zu tun, nicht nur mit der
israelischen Identität. Identität ist weniger eine Frage von Nationalität
oder Staatszugehörigkeit, sondern sie ist ein abstrakter und konkreter Teil
des Menschen: Wir können sie nicht berühren und spüren sie doch ganz
deutlich. Wir wählen sie und doch war sie auf wundersame Weise immer ein
Teil von uns. Schwierig wird es, wenn wir zweifeln. Je mehr wir uns gegen
die eigene Identität auflehnen, desto stärker manifestieren wir sie. Sich
gegen etwas aufzulehnen, das einem nahesteht, ist nicht nur eine Frage von
Ideen, Konzepten, einer Theorie oder einer politischen Partei. Deshalb ist
mein Film ultrapolitisch und zugleich apolitisch.
Wurden Ihre Filme aus der Perspektive der Identitätspolitik in Frage
gestellt? Wie sehen Sie Ihre Kunst im Verhältnis dazu?
Natürlich lässt sich „Aheds Knie“ als Geschichte über einen berühmten M…
im mittleren Alter lesen, der Menschen aus der Provinz sowie eine jüngere
Frau abfällig und grausam behandelt. All das ist der Fall, für mich sind
diese Erfahrungen allerdings untrennbar von der Realität. Leben bedeutet,
Grenzen zu überschreiten – das beleuchtet der Film aus der Perspektive des
Schönen und des Schrecklichen. Fehlt einer dieser Aspekte, können wir über
die Welt nicht mehr sprechen. Ich zelebriere das Gute und das Böse, das
Böse meist mehr als das Gute. Ästhetisch liebe ich Szenen, in denen die
Figuren als schön erscheinen, die nicht versuchen, das Richtige zu tun.
Die konservative Öffentlichkeit reagierte auf die Videos von Ahed Tamimi
mit Kommentaren zum Verhalten der Soldaten, die sie angriff. Ihr Film
reagiert darauf mit ungewöhnlichen Bildern des Militärs.
In meinen Filmen verkörpert der Soldat das Wesen Israels. Dort gibt es das
Klischee, die Israelis würden nie schöner wirken, als wenn sie Uniformen
tragen. Uniformen sind Teil der Alltagskultur für alle, die dort leben.
Mich berührt die simple Schönheit junger Männer in grünen Uniformen mit
kurzen oder abrasierten Haaren, die Verbindung von Potenz, Kindlichkeit,
Macht und Verletzlichkeit. Daran zu denken, entfremdet mich von mir selbst,
weil meine politischen Überzeugungen der europäischen Linken nah sind, in
denen das Militär für die Kontrolle und Manipulation des Menschen steht.
Ich kann nicht aufhören, Szenen mit Soldaten zu drehen und die Schönheit
uniformierter Körper zu unterstreichen, obwohl ich es ideologisch
fragwürdig finde. Diese Körper interessieren mich auf mehreren Ebenen. Es
geht dabei um Charisma und nur nachrangig um Politisches. Einige mögen sich
an [3][Pasolinis] Kommentare zur Polizei erinnern, die er 1968 in Paris als
Reaktion auf die Proteste Studierender machte. Er sprach seine Solidarität
mit der Polizei aus, weil auf deren Seite der Barrikade die Söhne der
Arbeiter*innen standen, während die Studierenden aus wohlhabenden
Verhältnissen stammten und nicht glaubhaft eine Revolution fordern konnten.
Sie lehnen sich [4][in Ihren Filmen entschieden gegen die israelische
Politik] auf. Existiert in Israel ein konservatives Kino und wird das Kino
von Israels konservativer Politik geschätzt?
In Israel existiert kein konservatives Denken, das mich interessiert oder
das die Kunst wertschätzt. Unter den konservativen Intellektuellen
bewundert zum Beispiel niemand Filme von John Ford oder fordert die
Produktion entsprechender Filme. Zum ersten Mal seit den siebziger Jahren
gibt es allerdings ein erfolgreiches israelisches Mainstreamkino, vor allem
werden Komödien mit TV-Stars gedreht. Diese Filme sind völlig apolitisch.
Einen israelischen Clint Eastwood gibt es aber nicht, keine Filme über
Helden der israelischen Armee. Ich frage mich, wie ein solcher Film wohl
aussehen würde und denke mir: Darin würde sich der israelische Patriotismus
sicherlich noch stärker selbst entlarven als in den kritischen Filmen.
22 Mar 2022
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## AUTOREN
Dennis Vetter
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