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# taz.de -- Nadav Lapid über Mut zum Risiko: „Ich will radikalere Filme mach…
> Filme sollen ihn und das Publikum herausfordern, sagt Nadav Lapid. Für
> „Synonymes“, der jetzt im Kino zu sehen ist, gewann er den Goldenen
> Bären.
Bild: Tom Mercier und Louise Chevillotte in Nadav Lapids Berlinale-Gewinner „…
taz: Herr Lapid, der Protagonist Ihres Films „Synonymes“, Yoav, ist ein
junger Israeli, der seine Heimat verlässt und nach Paris zieht, um sich
hier neu zu erfinden. Wie würden Sie ihn beschreiben?
Nadav Lapid: Er ist innerlich zerrissen zwischen seinen israelischen
Wurzeln, die er hinter sich lassen möchte, und seiner möglichen Zukunft als
französischer Staatsbürger. Aber seine alte Identität ist Teil seines
Körpers, er kann sie nicht einfach ablegen. Deshalb versucht er zu Beginn
des Films seinen Körper zu vernichten. Er erfriert fast in der Badewanne
der leeren Wohnung, der Israeli in ihm stirbt und er wird als Franzose neu
geboren.
Der Film beruht zum Teil auf Ihren eigenen Erfahrungen. Welches Verhältnis
haben Sie selbst zu Frankreich?
Auch ich wollte aus Israel weg und in Paris leben. Ich hörte auf, Hebräisch
zu sprechen, selbst mit meiner Familie am Telefon. Damals wusste ich nichts
über Film, meine Liebe zum Kino habe ich in Frankreich entdeckt. Hier habe
ich alles gelernt. Paris war meine Rettung. Aber meine Liebe zur Stadt ist
größer als umgekehrt. Ich habe dort noch immer das Gefühl, vor
verschlossenen Türen zu stehen, nie wirklich Zugang zu haben.
Ihnen wurde von manchen Kritikern vorgeworfen, einen antiisraelischen Film
gedreht zu haben.
Dabei ist er sehr ambivalent, er ist nicht einfach pro oder kontra. Allein
die Tatsache, dass der Protagonist ein Israeli und die begehrenswerteste
Figur des Films ist, unterwandert dieses Schwarz-Weiß-Denken. Wenn er all
diese negativen Adjektive über Israel aufzählt, ist das politisch? Oder ist
es ein Schrei der Verzweiflung? Der Film steckt voller Widersprüche, weil
ich voller Widersprüche stecke. Ich bin Linker, aber der Film lässt sich
von keiner politischen Partei vereinnahmen.
[1][Im Februar haben Sie als erster israelischer Regisseur den Goldenen
Bären auf der Berlinale gewonnen.] Wie waren die Reaktionen in Ihrer
Heimat?
Israel ist ein kleines Land und es dürstet nach Anerkennung, ob im Sport,
beim Eurovision Song Contest oder anderswo. Die drei größten Fernsehsender
unterbrachen alle ihr Programm, als wäre gerade Krieg ausgebrochen. Als ich
am Flughafen in Tel Aviv ankam, warteten 40 Kameras und 50 Journalisten auf
mich. Es war schon ein bisschen absurd, weil ich plötzlich als Held
gefeiert wurde. Aber mir ist natürlich bewusst, dass es eine große
Bedeutung hat, wenn ein israelischer Film ausgerechnet in Berlin den
Hauptpreis gewinnt. Im Fernsehen wurden dann provokante Szenen aus dem Film
gezeigt und die Leute wussten plötzlich nicht mehr, ob wirklich Stolz
angebracht war oder nicht doch eher Scham.
Und später beim Kinostart?
Er war bei Publikum und Kritik relativ erfolgreich, vor allem wenn man
bedenkt, dass es keine leichte Kost ist. Einige hassten den Film
regelrecht, nicht so sehr aus politischen Gründen, sondern wegen der
Inszenierung, die sie als aggressiv empfanden, wie einen Schlag in die
Magengrube. Aber viele Israelis spürten auch, dass ich ihre Geschichte
erzähle und ihrer Entfremdung dem Land gegenüber eine Stimme gebe.
Wir sitzen hier im Café Mersand in Tel Aviv. Ihr Film wurde nicht für den
israelischen Filmpreis nominiert.
Das hat mich überhaupt nicht überrascht. Ich bin 400 Meter von hier
aufgewachsen und lebe inzwischen wieder hier. Ich spüre eine starke
Intimität zu diesem Ort, aber keine Liebe. Ich fühle mich eher wie ein
Exilant, auch in der israelischen Filmbranche bin ich nicht zu Hause,
selbst wenn ich einige Kollegen sehr achte. Die Filmakademie, die den
Preis vergibt, mittelmäßig zu nennen, wäre eine Beleidigung für das Wort
„mittelmäßig“. Wenn sie meinen Film gut gefunden hätten, müsste ich mir
wirklich Sorgen machen.
Sie arbeiten bereits an Ihrem nächsten Film.
Es ist ein kleines Projekt, was die Produktion angeht, aber ich hoffe
natürlich, dass es ein großer kleiner Film wird. Es spielt in der
israelischen Wüste. Ich wollte eigentlich nicht so schnell wieder drehen,
aber ich habe das Drehbuch in nur drei Wochen geschrieben, ich musste es
jetzt tun. Wir drehen ab Dezember. Er handelt von einem Filmemacher Mitte
vierzig, der zwei zum Scheitern verurteilte Kämpfe führt: den einen um
seine künstlerische Freiheit, den anderen um das Leben seiner Mutter. Es
ist also wieder teilweise autobiografisch.
Inwieweit?
Ich hatte die Idee bereits vor der Berlinale, aber ich spüre seitdem den
Erwartungsdruck, von außen, aber auch von mir selbst. Ich möchte mich wegen
des Erfolgs weder wiederholen noch plötzlich einen höher budgetierten und
starbesetzten Film machen. Ich will den Erfolg mit „Synonymes“ nutzen, um
künstlerisch radikaler zu werden, tiefer in den Dschungel des Kinos
einzudringen. Ich wähle die Freiheit, nicht den goldenen Käfig. Ich will
noch mehr wagen, schräger werden.
Wie schwierig ist das in der israelischen Filmbranche?
Das ist überall gleich. Ich wundere mich, wie wenig Filme sich trauen
herauszufordern, etwas Neues auszuprobieren, die Filmsprache zu verändern.
Wenn ich ein Projekt vorbereite, schaue ich mir viele Klassiker an, um mich
zu stimulieren. Meist nur einzelne Szenen, oft im Schnelldurchlauf ohne
Dialoge, ohne Handlung, nur die Bilder. Dabei fällt mir immer wieder auf,
wie sich 90 Prozent dieser Filme ähneln, weil sie dieselbe Filmsprache
verwenden. Da gibt es nur wenig Überraschendes, Unberechenbares. Das ist
so, als würde man einen sehr persönlichen Liebesbrief schreiben, der aus
Formulierungen besteht, die man mithilfe von Google gefunden hat.
Bevor Sie Filmemacher wurden, haben Sie Philosophie studiert. Wie hat das
Ihren Film „Synonymes“ beeinflusst, der Identität und Sprache reflektiert?
Für mich ist Kino eine Plattform, um die Existenz zu ergründen. Filme
handeln davon, was es heißt, ein Mensch zu sein, sie sind eine Art
Geografie sozialer Konstruktionen. Für mich sind Leben und Kunst immer
verbunden, meine Filme sind der persönlichste Ausdruck meiner selbst. Wer
sie sieht, kennt mich. Sie sind intuitiv, emotional und leidenschaftlich.
Sie gehen nicht geradlinig von A bis Z, sie schreien zehn Buchstaben heraus
und landen dann wieder bei B.
Woher kommt Ihre Motivation, es anders zu machen?
Ich hasse es, früh aufzustehen. Und wenn ich um 5 Uhr morgens raus muss, um
eine Szene zu drehen, möchte ich nicht etwas filmen, dass so schon
unzählige Male zuvor gemacht wurde. Da bleibe ich lieber im Bett. Ich
brauche die Energie, etwas zu entdecken, Risiken einzugehen, neue Welten zu
erfinden. Alles andere ist für mich sinnlos, als Regisseur und als
Zuschauer. Wenn mich die Vorstellung, eine Szene zu drehen, nicht
begeistert, lasse ich sie lieber weg.
Wie haben Sie das bei „Synonymes“ gefunden?
Ich musste einen Rhythmus und eine Melodie finden, die die Rastlosigkeit
der Jugend widerspiegeln. Ich wollte, dass der Film vibriert, sich im
ständigen Kampf mit sich selbst befindet. Diese Vibration kann nur
entstehen, wenn es auch etwas Stabiles gibt, das einen Ruck erzeugt.
Deshalb bewegt sich der Film durch die gesamte Bandbreite filmischer
Mittel, von der subjektiven Handkamera bis zur statischen Einstellung.
Ist der Film Aufarbeitung oder Ergebnis eines Prozesses?
Er ist eine Art Therapie, ich beschäftige mich mit meinem Leben und Fragen
der Identität, aber zum Glück habe ich keine Lösung gefunden. Ich bin heute
nicht mehr derselbe Mensch, der ich zur Jahrtausendwende war, als ich nach
Paris kam und französischer als die Franzosen werden wollte. Ich kann über
meine Wandlung sprechen, aber ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Auch
der Film hat keine Antwort, er ist nicht abgeschlossen. Ich lebe heute
wieder in Tel Aviv, einige hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt.
Aber ich hoffe, nicht eines Tages hier beerdigt zu werden. Ich will immer
radikalere Filme machen, bis mich irgendwann ein Regierungsauto abholt, zum
Flughafen bringt und man mir befiehlt, nie wieder zurückzukehren.
9 Sep 2019
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
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Israel
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